Blue Flower

Willkommen bei Manfred Josef Pauli. Dies ist meine Homepage mit meinem ersten Roman. Frei für Alle. Viel Lesevergnügen.

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Zusammenfassung/Klappentext

 

Ein Eierwurf von Gorillas schmeisst die Wohngemeinschaft von Richard Gaffer mitten rein in die politischen Auseinandersetzungen ihrer Heimatstadt Klaie. Dabei kämpfen nicht nur Linke mit Rechten, Faschos gegen Juden, sondern auch ein Industrieller ums wirtschaftliche Überleben, die Stadt gegen Korruption und ein Polizeipräsident um sein Amt. Gewissheiten verlieren im Verlauf ihre Gültigkeit, ein Verbrechen aus dem Jahr 1982 wird aufgeklärt und Geschlechtsverkehr erweist sich nicht immer nur als Vergnügen, sondern auch als Mittel eigene Ziele zu erreichen. Richard `Ritchie` Gaffer findet aber in all dem Gewirr noch die grosse Liebe, muss einen Anschlag überleben und trotz allem seiner Arbeit als Präsident der queeren Menschen in seinem Geburtsort nachgehen. Welch Glück, dass er mit seinen Freundinnen und Freunden auch viel Lachen, Feiern und das Leben geniessen kann. Doch das Happy-End behält einen bitteren Nachgeschmack.

Gaffer, Richard Gaffer

 

Roman

Manfred Josef Pauli, Zürich 2019

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

1 Ei 2

2 Brunch. 11

3 Date. 17

4 Sonntag. 21

5 Arbeit 30

6 Beischlaf 35

7 Energie. 40

8 Entwicklungen. 44

9 Angriff 50

10 Linien. 59

11 Freitag. 63

12 Diebstahl 68

13 Besuch. 73

14 Auswertung. 85

15 Party. 90

16 Pressekonferenz. 96

17 Felsenrain. 104

Zusammenfassung/Klappentext 109

 

 

 

 

 

 

1 Ei

 

«Gaffer, Richard Gaffer», antwortete ich der Buchhändlerin auf ihre Frage, auf wen denn das Buch bestellt worden sei. Das liess sie hochschauen, einen fragenden Blick aufsetzen und sagen «Von den Felsenrain Gaffer?» «Nein, verarmte Seitenlinie» antwortete ich wahrheitswidrig, da wir in keinerlei Hinsicht mit der Industriellen-Familie aus dem Vorort von Klaie verwandt waren. Die Enttäuschung war der Buchhändlerin anzusehen, das passte aber gut zu ihrem Sozialpädoginnen-Outfit. Aber das Wort `verarmt` hatte sich wieder bewährt, denn es senkte jedesmal die Neigung, mich nach Kundenkarten oder Pay-Back-Punkten zu fragen. Meine `Ich-hab-heute-frei`-Bekleidung, bestehend aus einer alten beigen Cordhose und dem grünen Kaschmir-Pullover von Tante Elsbeth, den sie mir zum 30. Geburtstag geschenkt hatte, half dem extra nach. Wortlos übergab sie mir mein Buch `Moderne Tricks für ein erfolgreiches Fundraising`, sah mich recht mitleidig an und vergass ganz, mir noch einen schönen Tag zu wünschen, vermutlich hatte sie dafür keine Hoffnung – oder für sich selbst irgendwelche Erwartungen. Ich nahm das Werk und ärgerte mich selbst, dass ich es nicht gleich online bestellt hatte. Die liefern frei Haus und ich musste stattdessen wieder zweimal den Weg in die Innenstadt machen, nur um ein Buch zu kaufen.

Ich war kaum aus der Buchhandlung `Schreiber` raus, eine der wenigen, die sich noch mit einem Laden am Platz gehalten hatte, da fing es zu schütten an und aus der Ferne war Donnergrollen zu vernehmen. Ich schnappte mir mein Fahrrad und stieg in die Vierer-Strassenbahn ein, ich hatte keine Lust auf nass werden und dem Buch würde es sicher auch nicht guttun. Ausserdem war die Linie 4 auch immer eine Nostalgiefahrt, führte sie doch durch die Südstadt, in der ich aufgewachsen war. Viel hatte sich dort seither verändert – aber nichts zum Guten. Putz bröckelte überall, wo ehemals Stoffwaren, Haushaltsgeräte und frische Lebensmittel angeboten wurden, nur noch Spielhallen, Tattoo-Shops und Fast-Food-Zeugs, wenn nicht nur noch `Gewerbeflächen frei`-Zettel im Schaufenster hingen. Dafür aber Menschen aller möglichen Herkunft, viele Studierende, die die günstigen Mieten dort schätzten und solche, denen selbst diese zu hoch waren und sie in Gross-Wohnungsgemeinschaften hausten. Dann nahm die Linie den Weg durch den Stadtpark und bevor es in die Oststadt ging, die riesige Baustelle des Bypass-Ost. Hier baute die Stadt einen grossen Autostrassentunnel, der angeblich mal die Innenstadt entlasten soll und die beiden Autobahnen im Norden und Süden der Stadt miteinander verbinden wird. Bei Regen sah die Baustellenszenerie besonders bizarr aus, ein graubraunes Bauloch, an den Seiten durch verrostende Stahlträger vom Rest der Stadt gesichert. Dann endlich in die Oststadt mit seinen schmucken, herausgeputzten Klassizistikhäusern und nur wenigen Bausünden aus den Siebzigern. Am Ostmarkt, wo ich aussteigen musste, war heute wieder Markt und ich hatte Mühe mit meinem Fahrrad durchs Menschengetümmel zu unserem Haus zu kommen, das an der Südseite des Platzes lag.

Ich sperrte das Fahrrad in den Keller und ging gemütlich die drei Etagen hoch, Eile war heute kein Thema. Ich sperrte die Tür auf und da lag auch wieder Mohrle und verlangte ihren Wegzoll. Mit wenigen Trockenfutterhäppchen, die wir extra am Eingang in einem Glas aufbewahrten, verschaffte ich mir Zeit und Platz, um mich in Ruhe auszuziehen. Aus der Küche kam ein angenehmer Geruch nach frischen Zwiebeln in Butter angebraten. «Hallo Ritchie, ich bin gerade am Kochen.» «Ich rieche es, mmmh, was gibt’s feines?» «Spaghetti mit Zucchini und Tomaten», schallte es aus der Küche, zu der ich gemeinsam mit Mohrle nun ging. «Hallo Lou», ich umarmte meine beste Freundin, Mitbewohnerin und Wohnungseigentümerin, die gerade frische Tomaten zu den Zwiebeln schüttete von hinten und seufzte: «Lou, gehen diese moderne Zeiten auch wieder vorbei?» Sie lachte: «Was ist los, heute melancholisch? Du hast doch frei, geniess das doch.» «Ach deswegen nicht, ich bin grad mit dem Vierer heimgefahren, zu viel Wasser von oben und hab die Bypass-Baustelle gesehen. Schrecklich.» «Sag nichts Ritchie, ich weiss. Und das geht noch eine Weile so, aber wenns fertig ist, wird’s oben richtig schön.» Sie drehte sich um und schmunzelte mich reichlich fies an. «Ja ich hab Eure Prospekte gesehen, Familienpicknick über der Autobahn…» «Du liest unsere Prospekte? Glückwunsch. Hast Du Hunger? Ich muss nachher noch ins Amt und abends zur Bürgerversammlung wegen den Plänen in der Südstadt und dachte mir, ich koch mal für alle zu Abend, auch wenn ich nicht mit Euch allen essen kann.» «Wie könnte ich da nein sagen. Aber ein vegetarisches Essen? Was ist mit Stefan?» «Dem hab ich ein Schnitzel besorgt, kann er sich heiss machen und die Pasta als Beilage essen.» «Mutter der Kompanie», murmelte ich so vor mich hin und als ich mich umdrehte, um den Tisch zu decken, spürte ich einen sanften Pieks mit Lous Kochgabel im Rücken. «Nicht frech werden hier. Und leg auch Salatteller hin, den gibt’s dazu.»

Ihre Pasta war wie gewohnt grossartig und nachdem wir beide unseren ersten Hunger gestillt hatten, griff ich den Faden von vornhin wieder auf. «Ihr habt heute Bürgerversammlung? In der Südstadt? Was liegt an?» «Sag mal, bekommst Du noch was mit, was hier in der Stadt passiert?» «Nicht so wirklich», gab ich kleinlaut zu. «Und das, wo Du doch aus diesem Assiviertel kommst!» «Ich bedanke mich für diese nette Beschreibung meiner Heimat, aber nun rück raus, was ist da geplant?» «Vieles und Grosses», fing sie geheimnisvoll an, «erst der Bypass Ost und dann soll das ganze Viertel umgekrempelt werden, die Siedlungen aus den Sechzigern weg, ein Bürohochhaus als Zentralpunkt und der Stadtpark wird erweitert.» «Wow, Zentralpunkt, das klingt nach Kommerzkacke, noch mehr Platz für Versicherungsheinis und dubiose Immobilienhaie?» Lou musste laut lachen: «Nein, es wird besser, Deine Namensvetter bauen ihre neue Konzernzentrale.» «Die Felsenrain-Gaffer?» «Du betonst das aber eigenartig.» «Ach so, nein, hat mich heute sogar die Frau bei Schreiber gefragt. Seit der alte Gaffer seine dritte Frau geheiratet hat, kannst Du mit dem Namen Gaffer nichts machen, ohne auf die angesprochen zu werden.» «Und was sagst Du dann?» «Meist das mit der verarmten Seitenlinie, irgendwie ist Armut uncool geworden und die Leute lassen mich in Ruhe.» «Als wenn Armut je cool war …» Ich fürchtete, dass Lou gleich wieder grundsätzlich werden könnte und mir den Kapitalismus und seine fatalen Wirkungen auf Klaie, das Leben der Unterprivilegierten und natürlich der Frauen erklären wollte und nahm statt dessen das Gespräch mit unserer WG-Katze auf, die sich vor dem Tisch niedergelassen hatte. «Na Mohrle, was gibt’s aus Deinem Leben Neues? Frische Mäuse gesichtet?» «Ritchie», unterbrach Lou mein einseitiges Gespräch, «die Versammlung könnte Dich doch interessieren? Du kennst doch die Südstadt bestens?» «Ich würd ja gerne», log ich aus reiner Bequemlichkeit, «aber ich möchte diesen Fundraising-Wälzer noch durcharbeiten.» «Kommst Du immer noch nicht vorwärts mit Deinem Projekt?» «Nein, die einzigen, die bisher was spenden wollten – rate – ist der Verband der queeren Psychiater.» «Den gibt’s?» fragte Lou ungläubig. «Ja, es gibt mittlerweile fast alles in queer, willkommen Lou in den Zehnern.» «Was war das nochmal für ein Projekt?» «Suizidgefährdete Jugendliche, wir wollen ein Schulprojekt machen, so mit Vorträgen, Workshops und Mitmachaktionen, so Homosexualität von unten halt.» «Das hört sich eher nach Aufklärungsunterricht an, kein Wunder, dass da keiner spenden will. Null Action.». «Danke, Du machst mir wieder Mut.» «Nein ernsthaft, das ist doch altbacken hoch drei, macht wenigstens eine App dazu.» «Hatten wir geplant, aber ohne Geld?» «Und Du meinst, Dein schlaues Buch wird Dir helfen?» «Keine Ahnung, aber in der Vereinsszene schwören sie jetzt alle auf Herrn Sigfried Wehner und seine Fundraisingtricks, vielleicht kommt mir ja dadurch eine Idee.» «Ich drück Dir die Daumen. Kannst Du mir bitte die Küche aufräumen, jetzt hab ich mich doch etwas vertrödelt und müsste rasch los?» «Wie kann ich diesem Blick widerstehen, natürlich mach ich das», säuselte ich ihrem Kussmund entgegen und dachte mir nur, ah gut, eine halbe Stunde geschunden, bis ich das Buch anfangen muss. «Du bist ein Schatz, Ritchie. Bei mir wird’s spät, sag den Monogamisten einen Gruss.» Und schwupp war sie bemantelt, beregenschirmt und zum Abflug bereit. «Und sag nicht immer Monogamisten zu unserem Vorzeigepärchen», gab ich zum x-ten Mal mit auf den Weg. «No Monogamists – ist klar!»

«Wie kann ein Mensch nur so viel Geschirr für ein simples Pastagericht brauchen, hmmm Mohrle, weisst Du das?» fuhr ich mein Selbstgespräch mit Katze fort, während ich den Geschirrspüler füllte und für Ordnung in der Küche sorgte. Alles, bloss jetzt nicht ans Fundraisen denken. Ich liess mir noch einen Kaffee raus, legte etwas Rockmusik aus dem Internet auf und holte mir Herrn Wehners Wälzer mit aufs Sofa. Zu meinem Glück zeigte mir mein Smartphone 17 neue Nachrichten auf allen möglichen Kanälen an, das galt es jetzt erstmal zu lesen und zu beantworten. Vielleicht war ja auch mal wieder ein netter Mann dabei, der vielleicht heute auch frei hatte. Meine vage Hoffnung zerschlug sich aber gleich, nur Belanglosigkeiten, für die mir gerade meine Finger zu schade waren, um darauf zu antworten. Also fing ich mein Buch an und freute mich, dass Mohrle heute mal wieder auf meinem Schoss dösen wollte und ich so wenigstens eine Zuhörerin für meine Selbstgespräche hatte.

Kurz vor sechs hatte ich Kapitel Zwei fertig und war nicht wirklich schlauer. Für einen freien Tag genug gearbeitet, sagt ich zu mir und ging in unsere kleine Vorratskammer und schaute, ob Stefan wieder seiner WG-Pflicht nachgekommen war. War er und zwischen den Konserven und den Pastavorräten stand das berühmte Entspannungsglas prall gefüllt mit zehn handgearbeiteten Joints. «Ha Mohrle, auf unseren Stefan ist Verlass.» Zur Bestätigung schnurrte Mohrle vom Sofa her, wo sie mit hoher Präzision genau dort lag, wo ich wenige Sekunden vorher noch gemütlich gelesen hatte. Also ging ich zum Küchentisch, nahm die Zeitung vom Wochenende und zündete mir einen besonders schön gedrehten Joint an und genoss den ersten Zug als wär`s mein allererster.

Ich hatte das Wundertütchen noch gar nicht zur Hälfte durch und gerade mal die Cartoonseite `gelesen`, da ging das Schloss, Mohrle sauste wie ein Blitz zur Tür und wartete auf den Eindringling. Es war Stefan, der lediglich ein «Hallo» mit seinem sonoren Bass von sich gab, dann hörte ich Trockenfutter auf den Boden fallen und Stefan seine nassen Sachen versorgen, das Gewitter tobte immer noch über Klaie.

Eine Viertelstunde später kam Stefan in die grosse Wohnküche: «Hats was zum Össön?» Er stand etwas verloren in seinen Schlabbersachen rum, aber auch damit sah er aus, als wäre er frisch aus einem Pornodreh rausgesprungen. Seine jahrelang mit Sorgfalt gewachsenen Muskeln zeichneten sich sanft durch sein T-Shirt ab und die vollen schwarzen Haare am Kopf und im Gesicht gaben diesem 52-jährigen ein extrem junges und heisses Aussehen. «Lou hat Pasta mit Zucchini und Tomaten gemacht – sehr fein», antwortete ich. «Vögötarisch?» «Ach so, nicht nur, Lou hat Dir auch ein Schnitzel mitgebracht, das brauchst Du Dir nur warm zu machen.» «Kannst Du das machön, bittö?» «Wenn`s sein muss, ich greif dann nachher noch etwas bei Deinem Glas zu.» «Okay.» So wortkarg er war, so ungeschickt war er auch in der Küche, der Mann, der als Schreiner hochpräzise Möbel bauen konnte, schwere Maschinen bediente und auch sonst für alle Reparaturen in der Wohnung zuständig war, benahm sich in der Küche wie der berühmte Elefant im Porzellanladen oder präziser gesagt, es verdarb ihm einfach alles Essbare zu einer Pampe. Also richtete ich ihm eine ordentliche Portion samt Schnitzel auf einem Teller und überliess die Arbeit der Mikrowelle. Mit grossem dankbarem Blick setzte er sich kurz später vor seine Portion und ass mit so einer Kunst, als würde er für ein Gourmet-Restaurant Werbung machen. «Dein Mann heute verspätet?» fragte ich etwas hilflos nach dem Offensichtlichen, denn diese Stille war kaum auszuhalten für mich. «Öltörnabönd», murmelte Stefan vor sich hin. «Ah muss er wieder die katholische Sexualmoral mit den Erziehungsberechtigten pauken?» «Nö, so ein Sozialprojökt, frag ihn bössör sölbör.» `Danke fürs Gespräch`, dachte ich mir nur und widmete mich meinem Smartphone und durchstöberte unser schwules Einwohnermeldeamt mal wieder auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Ihn störte es gar nicht. Schweigend räumte er nach dem Mahl sein Geschirr weg: «Ich göh noch ins Training», hörte ich ihn kurz darauf rufen und schon fiel die Tür wieder ins Schloss und ich war erneut allein.

Eigentlich schätzte ich solche Momente, in einer WG war das ja nicht der Regelfall, aber heute wäre mir einfach Gesellschaft lieber gewesen. Selbst Mohrle hatte offenbar etwas Besseres zu tun und ward nicht mehr gesehen. Also knipste ich den Fernseher an und wählte mal unser Lokalfernsehen. Und tatsächlich, sie brachten einen ausführlichen Bericht zur heutigen Bürgerversammlung. Offenbar hatten die Linken in der Stadt zur Demo aufgerufen, ihnen gingen die Pläne viel zu weit. Die Stadtregierung, allen voran Frau Departementsvorsteherin Bau und Verkehr Doktorin Elisabeth Baumann pries die wunderbare Chancen für Klaie an, die mit dem Bypass-Ost und den Umwälzungen in der Südstadt entstehen würden und das «ein Stück echte Urbanität in das in die Jahre gekommene Viertel Südstadt» bringen würde. Mir ging der Politsprech gleich ziemlich auf den Nerv und ich zappte mich bis zu einer Dokusoap über dicke Menschen durch, die auf einer einsamen Insel gleichdicke zum Heiraten suchten oder sowas in der Art. Auf alle Fälle beanspruchte das parallel genutzte Smartphone meine grössere Aufmerksamkeit, Toni war wieder in der Stadt. Den Ausflug ins Ausland hatte er offenbar beendet, ein wenig Hüftgold gewonnen, aber er war immer noch messerscharf. `Alte Liebe rostet nicht`, dachte ich mir und versuchte ihn anzuchatten. Aber auf der anderen Seite nur Schweigen und so suchte ich, wo ich doch grad online war, auf den etwas deftigeren Seiten nach einem passenden Date. Erfolglos.

Gegen neun wiederholte sich Stefans Heimkehrritual, «Hallo», Trockenfutterprasseln und die Tür zu seinem und Toms Zimmer, das ins Schloss fiel. Kurz danach hörte ich das mechanische Kratzen seiner Rudermaschine – Nachtraining nannte er das und ich sah etwas mitleidig auf meinen kleinen Ranzen und hoffte inständig, dass sein Training mir auch helfen würde – so Modell Passivrauchen.

Es war bereits kurz nach Zehn und ich war voll dabei, junge Schwule aufzuklären, die mit mir alle möglichen Varianten ungeschützten Sexualverkehrs ausprobieren wollten, natürlich nur, wenn ich für genügend Substanzen sorgen würde, mit denen man den Sex mit mir offenbar erst erträglich finden könnte. Ziemlich erfolgs- und hoffnungslos schrieb ich mir die Finger über die Gefahren durch HIV und andere Geschlechtskrankheiten wund und kam mir mitunter nicht nur albern, sondern auch reichlich alt vor. Allzumal ich mit Kürzeln konfrontiert wurde, die mir beim besten Willen nichts sagen wollten. Da klingelte mein Telefon und ich sah, dass Lou am anderen Ende war: «Hallo Lou, was ist los?» Mit ziemlich verstörter und zittriger Stimme meldete sich Lou: «Ritchie, hier ist Scheisse passiert. Ich hab ein Ei ins Gesicht bekommen, Brille kaputt, die Rettung bringt mich ins Krankenhaus – sicher ist sicher. Ist Stefan da? Könnt Ihr mich abholen kommen?» Im Hintergrund waren Sirenen zu hören und ein ziemlicher Tumult. «Ja Stefan ist da, in welches Krankenhaus bringen die Dich denn?» «Ins Ursulinen …» Dann brach die Verbindung ab. Blitzartig war ich ziemlich munter und klopfte an Stefans Tür, «Ja», tönte es von der anderen Seite. Zaghaft machte ich die Tür auf, Stefan war mittlerweile mit dem Rudern fertig und machte ein paar Stretching-Übungen. «Stefan, kannst Du mich bitte ins Ursulinen-Krankenhaus fahren, Lou hat offenbar ein Ei ins Gesicht bekommen.» «Hat sie die Seitön göwöchsölt?» Ich musste kurz schmunzeln über seinen trockenen Humor, wollte mich aber nicht damit aufhalten und antwortete trocken: «Nein, eins vom Huhn, ihre Brille ist auch kaputt.» «Ja klar.» Er sprang noch rasch unter die Dusche und war in zehn Minuten wieder wie aus dem Ei gepellt und als wollte er mich anmachen, hatte er sich seine scharfe Lederhose angezogen und sein lässiges Muskel-Sweatshirt. Es war nicht leicht mit so einem die Wohnung zu teilen. Auch nach drei Jahren nicht.

Im Auto wars dann gewohnt still, ausser dass Stefans geliebtes Trance Radio dudelte. Ich wunderte mich aber, wie konsequent Stefan es vermied, auch nur eine einzige Hauptstrasse zu benutzen, vielmehr bog er ständig links und rechts ab und schlurfte durch 30-er Zonen und Wohngebiete, bis mich dann doch die Ungeduld packte und ich fragte: «Stefan, was fährst Du hier für Rentnerschleichwege? Über die Grosse Allee ginge es doch viel schneller.» «Heutö ist Fussball, da kontrollierön sie wiedör übörall und örst röcht an dör Grossön Allöö– und ich hab keinön Führörschein.» Kein Schmunzeln, kein ironisches Lachen. «Du hast was nicht?» Ich liess gleich mal meinen Mund offen nach dem Satz. «Führerschein.» «Ja Danke, das hab ich verstanden, aber warum hast Du keinen Führerschein? Bist Du gekifft gefahren?» «Nie gömacht, mein Vatör war Fahrlöhrör, dör hat mir allös beigöbracht.» Sein Dialekt war wieder mal genauso zum Verzweifeln wie seine Mitteilung. «Aber Du fährst doch auch ständig, wenn Tom dabei ist?» «Ja und?» Okay, besser nicht nachfragen, schliesslich wollten wir ja Lou abholen und nicht Stefans Machenschaften mit dem Verkehrsrecht diskutieren. «Was macht Lou eigöntlich böruflich?» kam es dann etwas unerwartet. Offenbar hatte er so manche Gespräche nicht wirklich mitbekommen. «Sie ist Assistentin bei der Departementsvorsteherin.» «Das weiss ich, abör was macht sie da – also gönau?» Uff, mein Glaube an die Menschheit war wiederhergestellt und er hatte Recht, was machte sie eigentlich als Assistentin da so genau? Ich versuchte mich in einer Antwort: «Sie hält den Magistratsbetrieb am Laufen. Macht Termine aus, berät ihre Chefin, gibt Tipps und Tricks und schaut, dass ihre Chefin und die Stadtregierung gut aussehen.» «Sökrötärin?» «Nein, irgendwie mehr, sie mischt da auch gut im Betrieb mit, immerhin kennt sie den Laden seit Jahren.» «Das heisst?» Menno Stefan, sonst kein Wort rausbringen und nun ins Detail. «Okay», unternahm ich einen nächsten Versuch, «Du kennst das doch aus Deiner Schreinerei, wenn alle nur Möbel herstellen, kann keiner sich um das nötige Holz oder den Verkauf kümmern. Lou ist sozusagen die Organisatorin im Hintergrund, damit ihre Chefin ihre Sachen machen kann.» «Mädchön für allös, würdö mein Vatör sagön», lautete die irgendwie richtige Zusammenfassung und ich quittierte sie mit einem Nicken.

Die Uhr ging auf halb elf und ich fragte ihn: «Hey Stefan, können wir Radio Klaie anmachen, um halb bringen die immer ein Nachrichtenupdate?» «Ja klar», war seine knappe Antwort und ich wechselte den Sender, gerade kam der Jingle und gleich gings los und wir lauschten gespannt. «Guten Abend, hier ist Radio Klaie. Das Aktuellste in Kürze. In Klaie hat sich heute Abend im Anschluss an eine Bürgerversammlung zu den Neuplänen in der Südstadt eine militante Auseinandersetzung mit linken und antikapitalistischen Gruppierungen ergeben. Dabei wurden die Departementsvorsteherin Frau Doktorin Elisabeth Baumann und ihre Assistentin Frau Louise Hager mit Eiern beworfen. Die gewalttätige Gruppe formierte sich nach Polizeiangaben aus dem Pulk der Demonstranten und trug Gorillamasken. Frau Departementsvorsteherin und ihre Mitarbeiterin wurden dabei schwer getroffen. Die sie begleitende Gruppe, bestehend aus den Investoren der Gaffer-Group zusammen mit Herrn Gaffer Senior, und Mitarbeitern der Baubehörde kamen unverletzt davon. Die Polizei sucht fieberhaft nach Zeugen und rief zur Meldung von Hinweisen auf. Bei der Bürgerversammlung wurde über …». «Scheiss Mödiön», schrie recht unvermittelt Stefan dazwischen. «Hey, was ist los?» fragte ich reichlich konsterniert. «Die Klaiönör Linkön nutzön keinö Gorilla-Maskön.» «Aha, wie kommst Du darauf?» «Mönno Ritchi, seit dön Dübschön-Kämpfön sind Gorilla-Maskön bei dön Linkön vörpönt. Kotz, was für ein Mistsöndör.» Im Verlauf der weiteren Berichterstattung erfuhren wir immerhin noch, dass die Polizei nun ihre Ermittlungen im linken und kapitalismuskritischen Milieu fortsetzen wollte, von dem ja diese Demonstration gegen die Aufwertung der Südstadt losgetreten wurde. Ich wunderte mich aber noch ein wenig über Stefans Aufruhr und da waren wir auch schon am Ursulinen-Krankenhaus und Stefan fand um diese Zeit rasch einen Parkplatz. So trabten wir schweigend auf den Eingang zu.

Dort war es um diese Uhrzeit eher leer, aber ein kleines Reporterteam des Lokalfernsehens und wenige andere aber aufgeregt wirkende Menschen standen im Empfangsraum. Ich erkannte zumindest das Star-Team von Tele Klaie, die hatten mich auch mal interviewt. Aber der Rest der kamerabewaffneten Meute war mir völlig fremd. Ich ging zum Empfang und stellte mein Anliegen vor: «Guten Abend, Gaffer mein Name, meine Mitbewohnerin Frau Lou, äh Frau Louise Hager, soll hier wegen eines Angriffs in Behandlung sein. Sie bat mich, sie abzuholen, wo finde ich sie, bitte?» Der Blick der Krankenhausangestellten war reichlich verwirrt. «Sie sind einer von den Felsenrain-Gaffern?» kam es dann aus ihr heraus. «Nein, weder verwandt noch verschwägert, ich bin der Mitbewohner von Frau Hager, ebenso wie mein Kompagnion hier.» «Ihr Kompagnion? Sie stehen allein vor mir.» In dem Moment fiel mir auf, dass Stefan schon nicht mehr an meiner Seite war, sondern in einem Gespräch mit einem der Herren, der offenbar zum Journalistenpulk gehörte. «Ja mit dem kleinen muskulösen da drüben», gab ich der Krankenhausangestellten zu verstehen. «Ach so», schmunzelte sie vielahnend. «Ja hier stehts. Frau Hager hat vermerken lassen, dass ein Herr Gaffer sie wohl abholen kommen würde», teilte sie mir nach einem Blick in ihren Rechner mit. «Augenabteilung, Bauwerk C, 4. Stock, gehen Sie bitte hier rechts und nehmen Sie den Aufzug und folgen Sie dann den Hinweisschildern zur Augenabteilung.» Freundlicher konnte sie wohl nicht, ich ging zu Stefan, um ihn mitzunehmen. «Stefan, wir müssen zur Augenabteilung», sagte ich knapp, aber anstatt mir zu folgen, stellte mich Stefan seinem Gesprächspartner vor: «Momönt Ritchie, das hier ist Thomas, ör ist freiör Rödaktör beim Klaiönör Botön, Thomas, das ist Ritchie, Ritchie das ist Thomas.» «Hallo Thomas, sorry fürs Kurzangebundensein, aber ich hole hier mit Stefan eine Freundin ab», reagierte ich ungeduldig auf die Vorstellung und versuchte Stefan loszueisen, was aber nicht so leicht war, denn der Kerl war sexy, und aus seinem strahlenden Gesicht leuchteten zwei, vielleicht ein wenig hervortretende, blaue Augen. Aber Figur, Muskeln, Arsch, alles exzellent, und der typische Journalistenlook mit leicht verwaschener Hose und Jacke mit unzähligen Taschen in mildem beigegrün nahm dem gar nichts. «Dich kenn ich doch, Du bist doch der Chef unserer queeren Community?», unterbrach er meine Musterung, «Richard Gaffer, wenn ich mich recht erinnere?» Das schmeichelte mir natürlich und freundlich gab ich zurück: «Ja genau der bin ich.» Mit breitem Grinsen und leichter Verlegenheit ergänzte ich noch: «Geschäftsführer von Klaqueur, Klaie queer, unabhängig, revolutionär.» «Ja genau, kenn Dich doch von den Pride-Veranstaltungen. Oder zumindest von den Flyern jedes Jahr. Bin sonst nicht viel in der Szene unterwegs und ist auch beruflich nicht mein Ressort.» «Und was ist Dein Ressort?», fragte ich, um doch noch etwas Zeit zu schinden und diesen Prachtsmann zu begutachten. Auch die Stimme klang angenehm, männlich-sanft ohne Allüren. «Investigation. Apropos, bist Du verwandt mit den Felsenrain-Gaffers?» `Nicht Du auch noch`, dachte ich mir, gab aber freundlich Auskunft: «Weder verwandt noch verschwägert.» Und nach einer kurzen Pause: «Bist Du an denen dran?» «Na, ja, ich versuchs. Hab noch keine klare Story, aber die Eierwerferei heute Abend könnte noch etwas bringen.» «Dann wünsch ich viel Erfolg, wir müssen jetzt aber wirklich los», unterbrach ich: «Kommst Du Stefan?» fragte ich mehr aus Verlegenheit, denn aus Lust und Stefan schmunzelte nur und folgte mir artig. Thomas, das sah ich gerade noch aus dem Augenwinkel, schüttelte leicht den Kopf, liess aber die Augen nicht von mir, uff, jetzt wurde mir doch aus ganz anderen Gründen schwummerig.

Den Weg fanden wir trotz der typischen Verwirrarchitektur eines Krankenhauses erstaunlich leicht und in der Augenabteilung fanden wir schnell eine Krankenschwester. «Guten Abend, Gaffer, ich möchte Frau Hager abholen, wissen Sie, wo ich Sie finde?» fragte ich die erstbeste Schwester, die uns über den Weg lief. «Gaffer? Von den Felsenrain-Gaffer?» «Nein», schrie ich, «Gaffer, Richard Gaffer, weder verwandt noch verschwägert, ich suche Frau Hager.» «Jetzt machen Sie hier mal keinen Terz. Frau Hager ist grad noch in der Untersuchung – hier links finden Sie einen kleinen Warteraum, wenn Sie sich gefälligst gedulden mögen. Frau Hager kommt dann zu Ihnen.» «Wir mögön uns göduldön, mögön Sie bittö wirklich freundlich wördön?» tönte auf einmal Stefan von hinten. Manchmal war er wirklich unbezahlbar mit seiner trockenen Art und der verdutzte Blick der Schwester war es auch. «Danke», flüsterte ich Stefan zu und wir begaben uns in den kleinen Warteraum. Schweigend warteten wir dann knapp fünf Minuten und Lou kam untergehakt von einer anderen Schwester zu uns, übers linke Auge einen Verband und offensichtlich etwas benommen. «Hallo Jungs», kam es etwas brüchig aus ihr heraus, was uns offenbar ein wenig besorgt aussehen liess: «Keine Sorge.» Es folgte eine Kunstpause, in der ihre Begleitung sie losliess und davon trabte: «mir geht’s gut. Aber habt Ihr diese scharfe Braut gesehen? Frau, das wäre was für meinen Harem», lachte Lou uns zu.

«Ach Lou», ich stürmte auf sie zu, umarmte sie kräftig, wohlbemüht, nicht ihr Auge zu touchieren, «gut Dich so wohlbehalten zu sehen. Und so gut zu sehen, dass Dein Blick bereits wieder auf schöne Frauen gerichtet ist.» Stefan nahm ihre Hand und sprach ganz leise: «Was machst Du nur für Sachön, Lou? Wir habön uns Sorgön gömacht. Gut, göhts Dir gut.» «Danke Stefan, ich glaub der Schock war schlimmer als das Ei. Ritchie, hat er irgendeinen blöden Witz gemacht von wegen Lou und Ei?» Stefan und ich mussten nur noch laut lachen, ja Lou kannte uns. «Nur einen kleinen, Lou», sagte ich bemüht sachlich mit einem fiesen Grinsen, «hat er, aber nix böses. Jetzt erzähl aber mal, was ist eigentlich passiert? Wir haben nur wenig Infos aus dem Radio.»

«Du», begann Lou, «ich kann Dir gar nicht viel sagen. Wir waren ja auf der Versammlung, und im Saal hörten wir bereits die Demo draussen. Dann gabs noch eine kurze Pressekonferenz im Empfangsraum, da sah ich schon den linken Block mit ihren schwarzen Kapuzenjacken, aber ich dachte mir nichts weiter. Dann wollten wir nur noch heim und gingen aus dem Gebäude. Und schon flogen Eier, ich sah lediglich drei Gorillas in der Masse, da traf mich schon ein Ei und kaum danach traf eins Elisabeth und der alte Gaffer hat wohl auch eins abbekommen.» «Hat er laut Radio nicht», klärte ich Lou auf. «Du hast die Gorillas gösöhön?“ mischte sich Stefan ein. «Gorillas? Ja Stefan, ich hab definitiv drei Gorillas gesehen. Da waren zwar noch Pressefuzzis, die haben mich mit ihren Blitzlichtern geblendet. Aber in dem Pulk waren sicher mindestens drei Gorillas, ist das wichtig?» Stefan nickte nur und ich hakte mich unter Lou ein: «Jetzt komm bitte mit. Das Auto steht unten auf dem Parkplatz, wird Zeit für einen Tee und eine Tüte.» «Lass den Tee aus, Ritchie, ich hatte nur ein Ei im Gesicht.» Stefan und ich wechselten einen kurzen Blick und mussten unvermittelt lachen. «Was ist denn nun wieder so lustig?» fragte Lou mit einer leichten Empörung in der Stimme. «Nichts, Lou, wirklich nichts», gackerte ich und führte sie sicher aus dem Gebäude.

Wir waren kaum im Auto, da klopfte es an die Scheibe der Fahrerseite. Der heisse Thomas stand da, beugte sich etwas runter und Stefan öffnete das Fenster. `Mann`, dachte ich nur, `gebt mir Thomas mal in dieser Stellung`. «Sorry für die Störung, Leute. Ich weiss, Ihr wollt heim, ich würde nur gern diese Eierstory recherchieren.» Erneutes Lachen von Stefan und mir. Verdutztes Staunen bei Thomas. «Hier meine Visitenkarte, Stefan, ich bin umgezogen, hier meine neuen Daten. Meldet Euch bitte, wenn Ihr Infos habt. Ich glaub diese Linkengeschichte nicht.» «Ich auch nicht», antwortete Stefan, nahm die Visitenkarte, „wir möldön uns, wönn ös was neuös gibt oder Lou noch was einfällt. Dankö Thomas.» Er gab ihm einen Schmatz, der mir fast ein wenig zu lang vorkam, während Lou auf dem Rücksitz noch immer um einen beinfreien Sitz kämpfte.

Stefan hatte nun offenbar keine Lust mehr auf Schleichwege und fuhr direkt auf die nächstbeste Hauptstrasse. «Woher kennst Du Thomas?» meine Neugier wollte gestillt werden. «Langö hör, hattön mal ein paar Wochön was miteinandör. Nöttör Körl, abör hat nicht göpasst. Vor allöm im Bött nicht.» Stefan lachte kurz laut auf und ich traute mich nicht nach zu fragen. «Abör ich söh ihn ab und an und Tom und ör habön schon mal einigö Artiköl zusammön gömacht.» «Tom und Thomas, das kommt sicher gut», feixte Lou von hinten, bevor wir den Rest der nun recht kurzen Fahrt schweigend verbrachten.

Zuhause wartete Tom noch auf uns, es war mittlerweile kurz vor zwölf und um diese Zeit war er sonst meist schon im Bett, aber auch ihn hielt die Neugier und die Sehnsucht nach seinem Stefan wach. «Na, wie geht’s Dir, Lou», fragte er, nachdem er Stefan innig begrüsst hatte. «Geht schon, der Verband nervt grad mehr als das Auge. Ist ja nicht viel passiert, mir tuts fast mehr um meine schöne Brille leid, die ist das eigentliche Opfer», gab Lou kurz und knapp zur Auskunft. «Was ist da heute Abend eigentlich passiert?» bohrte Tom nach und wir gaben zusammen Auskunft, was wir jeweils gehört oder erlebt hatten. Als Lou von den drei Gorillas erzählte, schoss es aus Stefan wieder sehr energisch raus: «Ich sag Euch, das warön nicht die Linkön, die tarnön sich nicht als Gorillas – nicht möhr.» Lou und ich blickten uns fragend an, aber wir waren zu müde, um da noch nachzubohren. «Das glaubt übrigens ein gewisser Thomas vom Klaiener Boten auch», ergänzte ich noch, was Tom veranlasste zu fragen: «Hot-Thomas?» Stefan nickte und ich grinste mir eins. «Er ist wohl an den Gaffers dran und hofft, die Eierwerferei bringe ihm einen Ansatz für eine Geschichte.» Mann war ich in Erklärlaune. «Soso, scheint als hätte sich Ritchie ein wenig mit Thomas unterhalten?» Toms süffisante Bemerkung brachte vor allem Stefan zum Schmunzeln: «Ich glaub, da hat was göfunkt», schob er nach und Tom sah mich prüfend an: «Ja, seine Augen glänzen.» «So Ihr Kuppler, ich überlass Euch mal Eurem Männertratsch, werde morgen wieder gebraucht», liess Lou uns wissen und entschwebte in ihr Zimmer. Auch wir Männer liessen den Mittwoch zu Ende gehen und trollten uns in unsere Zimmer.

Die beiden nächsten Tagen plätscherten so vor sich hin. Im Verein war am spannendsten, dass unsere Frauenfussballmannschaft sich immer noch mit dem nationalen Verband streiten musste, ob sie in deren Liga mitspielen dürfen. Der neueste Trick war nun, dass sie nachweisen sollten, dass das Team tatsächlich nur aus Frauen bestand. Da aber auch zwei ehemalige Männer mitspielten, wollte der Verband sie nicht. Und jetzt wollten sie von unserem Rechtshilfefonds Unterstützung, um das vor Gericht klären zu lassen. Das machte den Donnerstag noch amüsant. Am Freitag gabs dann wieder eine Strategiesitzung mit den queeren Psychiatern und wie wir die Kampagne zum Suizid junger Homosexueller finanzieren wollten. Die üblichen Sponsoren, die auch unsere Pride unterstützten, wollten mit dem Thema nicht in Verbindung gebracht werden. So recht fiel uns aber auch nix Neues ein und wir vertagten uns.

Dann kurz vorm Feierabend doch noch ein Lichtblick, `Hot-Thomas` rief mich im Büro an. «Hallo Ritchie, hier ist Thomas, wir haben uns am Mittwoch im Ursulinen kennen gelernt. Ich hab mir von Stefan Deine Nummer geben lassen. Stör ich?» fing er ganz zögerlich an. Ich musste meine Begeisterung kräftig unterdrücken und stammelte halb: «Aber sicher nicht. Hallo Hot, äh hallo Thomas, was für eine Überraschung, was für… für… was für eine schöne Überraschung.» Wie ein Teenager. «Wie geht’s?» fragte ich dann aber doch noch rein aus Höflichkeit. «Danke gut. Ich dachte, wir könnten uns morgen mal auf ein Bier im Löwen treffen?» «Bier klingt gut, Löwen sowieso, Wetter soll ja schön sein, da können wir draussen sitzen und die Aussicht geniessen.» Oh weh, geht’s noch formeller, schoss es mir durch den Kopf. «Ja, so in etwa dachte ich mir das auch.» Er war offenbar ähnlich nervös wie ich. «Passt so acht Uhr?» «Ja, sehr gut», antwortete ich, «wir erkennen uns ja.» Mist, was faselte ich da. «Ich trag sicherheitshalber eine Nelke im Knopfloch», rettete er lachend diesen Moment. «Also abgemacht, morgen, acht Uhr im Löwen, ich freu mich.» «Ja, ich mich auch, danke für die Einladung.» Schweissgebadet beendete ich das Telefonat, das Wochenende aber war gerettet: «Ich werde schon dafür sorgen, dass es nicht beim Bier bleibt», schoss es mir durch den Kopf.

 

 

 

2 Brunch

 

Die Nacht schlief ich recht unruhig, Hot-Thomas kreiste durch meinen Kopf und jedesmal, wenn mir das Telefonat in den Sinn kam, war ich wieder hellwach, wie konnte ich mich nur so unreif verhalten. Allmählich sollte mich ein Date doch nicht mehr aus der Ruhe bringen. Aber wenn einen so ein Kerl einlädt, wie sollte es einen ruhig lassen, dieses charmante Lächeln, diese blauen Augen, dieser Arsch, meine Güte Richard, reiss Dich zusammen. Um acht wars mir dann zu viel und ich kroch aus dem Bett, Samstag war eh Brunch-Tag und ich beschloss, mit den Vorbereitungen anzufangen. Doch ich war nicht der einzige Frühaufsteher, Lou klapperte bereits mit dem Geschirr und war schon fast fertig mit dem Eindecken unseres Terrassentisches, und da sie mich aufstehen gehört hatte, war auch mein Morgenkaffee parat, was für ein Service. «Guten Morgen Lou, ah, was für ein schöner Tag. Wie geht’s Dir denn? Hab Dich ja seit Mittwoch gar nicht mehr gesehen.» «Morgen Ritchie», sie umarmte mich fest, «ja wird ein Prachtstag. Ich bin wochenendreif, die letzten beiden Tage waren die Hölle, ich bin nicht vor elf aus dem Amt gekommen und war morgens um sieben schon dort.» «Ach Du Arme, alles wegen den Eiern?» «Ach nein, die Eier waren kaum mehr ein Thema, das ist jetzt Sache der Polizei. Die Bürgerversammlung und die Planungen fürs Südviertel kosten uns die Nerven.» «Ich dachte, das sei bereits alles in trockenen Tüchern und die Versammlung nur noch pro-forma?» «Ja, dachte ich auch, ach komm, ich erzähls Dir unterwegs, wenn Du mit auf den Markt kommen magst?» «Aber sicher mag ich», antwortete ich und platzte dennoch fast vor Neugier. Aber Marktgang mit Lou war immer ein doppeltes Erlebnis, frische Saisonware und die Schwätzchen mit Lous aktuellen oder verflossenen Haremsdamen, irgendwie hatte sie ein besonderes Faible für Bauerntöchter, vorzugsweise aus der Bio-Ecke. Dafür war ihr Geschmack eher uneindeutig, kleine, grosse, schlanke, dicke, blonde, dunkle, langes Haar oder kurzes, sie nahms da nicht so genau. Nur auf eines legt sie Wert: keine One-Night-Stands. Und ihre Haremsdamen, wie wir ihre Freundinnen mit Extraleistungen anerkennend nannten oder kurz ihr Harem, dankten es ihr mit langjähriger Freundschaft, auch wenn das Bett mitunter schon lange kein Thema mehr war. Und mit extra guter Ware. So schlenderten wir also über `unseren` Ostmarkt, schnupperten hier und da, hielten ab und an ein Schwätzchen und hatten allmählich all unsere Brunch-Genüsse zusammen. In der Zwischenzeit erzählte sie mir von den Entwicklungen rund ums Südviertel. «Wir wussten, dass es eine Totalopposition gegen das Projekt gibt und waren darauf vorbereitet. Die Gaffer-Group hat ja die Pläne immer wieder angepasst, der Park wurde grösser, Kinderbetreuung aufgestockt, sozialer Wohnungsbau fast verdoppelt, all das halt. Aber jetzt hat sich rausgestellt, die Gegner haben strategisch Häuser aufgekauft und können nun das ganze Projekt auf Jahre blockieren.» «Wie bitte? Wer hat denn so viel Geld?» «Das haben wir uns auch gefragt. Es stellte sich heraus, das kam von verschiedenen Seiten. Alt-Linke, die zu Geld gekommen sind, einzelne Neureiche aus Dübschen, die geerbt hatten und nicht wussten, wohin mit dem Geld und der Hammer, die Wohnbau Klaie. Die wollen sich an der Gaffer-Group und an der Stadt rächen, weil sie bei verschiedenen Bauprojekten nicht zum Zuge kamen.» «Die Wohnbau Klaie?» fragte ich verdutzt: «Das ist doch eine städtische Gesellschaft.» «War», erklärte mir Lou, «war. Nach den letzten Wahlen wurde die an eine Fondsgesellschaft verkauft, zumindest der grösste Teil und die haben nichts Besseres zu tun, als jetzt gegen die Stadt zu arbeiten.» «Gut gemacht Klaie», zitierte ich eine alte Werbekampagne der Stadt aus meinen Kindheitstagen. «Es wird sogar noch pikanter», Lou flüsterte geheimnisvoll: «Unser OB war früher Geschäftsführer bei der Wohnbau, als sie noch städtisch war, und hat das wohl eingefädelt, also das mit dem Verkauf. Und das danach ist also auch eine Racheaktion gegen ihn. Dass da die Linken sich auch einspannen lassen, kannst Dir von selbst denken.» «Autsch. Und was nun?» «Wissen wir eben noch nicht, ich hab die Tage eine Konferenz nach der anderen gehabt, die Baumann und den alten Gaffer kann ich mittlerweile auf hundert Meter Entfernung ausmachen», sie lachte laut aber unglücklich auf. «Und der Baumann geht der Arsch auf Grundeis», ergänzte sie noch: «Floppt das Südstadt-Projekt, wird die Linke sicher die nächsten Wahlen gewinnen und sie verliert ihren Job.» «Und Du bekommst eine neue Chefin oder einen neuen Chef?» fragte ich. «Ja leider. Die Baumann ist eigentlich ganz okay, politisch naja, aber als Chefin prima. Hat klare Linien und mischt sich sonst nicht ein. Aber wie heisst es doch? Mir egal, wer unter mir Chefin ist.» Ihr Lachen klang weit weniger selbstsicher wie ihre Worte.

Dann waren wir auch mit unserer Tour durch und standen vor der Wohnungstür «Du», begann Lou vorsichtig und zögerte mit dem Aufsperren. «Ja?» fragte ich etwas verdutzt. «Du und der Zeitungs-Fritze, Thomas, was hast Du da vor?» «Vorhaben? Äh, nichts weiter, wieso fragst Du?» Ich war ziemlich erstaunt. «Na ich frag nur, weil der scheint im Umfeld der Gaffers zu recherchieren und hat mich schon ein paar Mal wegen des Südstadt-Projektes kontaktiert. Ich darf da ja von Amts wegen nichts sagen, aber schau bitte, dass er Dich nicht nur wegen ein paar Insider-Infos angräbt.» Wusch, das war ein Schlag ins Kontor und ich beliess es mit einem simplen Kopfnicken, die schöne Vorfreude auf den Abend hatte sich schlagartig verdüstert.

Nach dem Wegzoll an Mohrle brachten wir unsere Beute in die Küche und bereiteten den Brunch weiter vor. Obstsalat, Wurst- und Käseplatte, drei verschiedene Müslis, Lou begann ein paar Würste zu grillen und ich schnitt Gemüse für einen bunten Salat klein. Es war schon kurz nach zehn, als Tom und Stefan aufwachten und sich gleich auf die Terrasse verdrückten, nicht um vorher natürlich freundlich guten Morgen zu wünschen und das Glas mit den Joints hinauszutragen. Halb elf war alles parat und wir vier waren alle auf unserer Terrasse und starteten das Mahl. Auch Mohrle gesellte sich dazu, blieb aber dank Erfahrung in gebührendem Abstand zu den Leckereien. Die Terrasse selbst war noch immer ein Sammelsurium aus vier Haushalten, Lous Edelstahltisch bildete die Mitte und war wie immer mit einer blumigen Decke überzogen, Tom brachte seine Rattan-Sitzmöbel für fünf Personen mit ein, ich zwei Liegen und Stefans alte Klappstühle aus Holz waren wohl noch sein Gesellenstück. Und überall Pflanzschalen mit Blumen und Kräutern, um die sich Lou und Stefan kümmerten.

«Und Lou», fragte Tom, «wie geht’s Deinem Auge? Den Verband brauchts ja offensichtlich nicht mehr und erkennen kann ich auch keine Schramme.» «Dem Auge geht’s prima, ich hab etwas Ei und einen kleinen Glassplitter abbekommen, aber nichts beunruhigendes. Mich interessiert eigentlich mehr, wer diese Gorillas waren.» «Faschos», murmelte Stefan. «Faschos?» fragten Lou und ich zeitgleich recht verwundert. «Ja, Faschos», wiederholte Stefan und nahm sich erstmal noch ein Würstchen. Lou und ich sahen uns verwundert an. «Könntest Du bitte etwas ausführlicher Auskunft geben, lieber Stefan?» fragte Lou recht ungeduldig. «Na zähl doch mal eins und eins zusammön», liess sich Stefan entlocken, während er ein weiteres Würstchen nahm. «Zwei», maulte ich und sah in recht ungehalten an. «Jetzt sag mal, warum das Faschos waren?» «Na Gorillas bei einör Dömo dör Linkön gögön ein Gafför-Projökt?» «Ich versteh kein Wort», sagte Lou ratlos und ich stimmte ihr zu. Da nahm Tom das Wort an sich. «In den frühen Achtzigern», holte er aus, «Du als echter Klaiener kannst Dich vielleicht noch dunkel daran erinnern, Ritchie, gings der Stadt doch richtig schlecht, 15% Arbeitslosigkeit, alles ziemlich trostlos. Selbst bei uns auf dem Land mied man die Stadt. Und ab 85 dann Dauerunruhen, fast jedes Wochenende brannten irgendwo Autos und manchmal auch Häuser. Da kam doch der alte Gaffer auf die glorreiche Idee, dem Zoo einen Gorilla zu schenken, als neue Attraktion. `Strukturwandel mit Affen` lästerte sogar der Klaiener Bote damals.» «Pass auf Lou, Tom ist wieder auf Geschichtslehrermodus – hoffentlich wechselt er nicht noch auf Priestermodus», lästerte ich dazwischen. Tom blieb aber davon und von Lous amüsiertem Lachen unbeeindruckt. «Dann haben die Linken ihre Demos nur noch mit Gorillamasken durchgeführt und neben sozialen Projekten auch das sofortige Aus der Gorillaabteilung im Zoo auf dem Dübschen gefordert. Die Bilder gingen ja durchs ganze Land, hunderte, ja tausende Menschen mit Gorillamasken, die durch Klaie zogen oder Mahnwachen vor dem Zooeingang abhielten.» «Ja, ich erinner mich, unser jährlicher Schulausflug in den Zoo wurde damals sogar abgesagt, da die Eltern Sorge um uns hatten», ergänzte ich. «Genau. Aber es wirkte. Bei der Wahl 86 gabs andere Mehrheiten und Klaie änderte die ganze Stadtpolitik und als erste Massnahme wurde die Gorillaabteilung geschlossen.» «Und die Linkön habön seithör nie wiedör mit Gorillamaskön dömonstriert», mischte sich nun auch Stefan wieder ein. «Richtig», fuhr Tom weiter fort, «Anfang der Nullerjahre hat sich das revolutionäre Komitee sogar ein Verbot von Gorillamasken auferlegt, nachdem es fast zur Folklore geworden war, sie zu tragen.» «Ja schön und gut, aber wenn jetzt wieder Gorillas Eier werfen, warum müssen das dann Faschos sein?» fragte ich, um diese Geschichtsstunde mal abzukürzen.

«Weil Gafförs Frau Jüdin ist», meldete Stefan knapp. Mir fiel fast der Teller aus der Hand und auch Lou sah ratlos durch die Gegend. Dann erstmal Totenstille. Was war jetzt das wieder für eine Geschichte? Lou fand als erste wieder Worte und fragte zögerlich: «Jüdin? Was ist das jetzt für eine Verschwörungstheorie?» Stefan und Tom sahen sich leicht triumphierend an und da Stefan am Kauen war, nahm Tom wieder den Faden auf: «Der alte Gaffer ist doch zum dritten Mal verheiratet» «Ich weiss, mit der Ruth, geborene Rosenzweig, seither fragt mich doch jeder, ob ich mit den Felsenrain Gaffers verwandt wäre. Die beherrschen doch seither die Klatschspalten», unterbrach ich. «Richtig, Ritchie, Du bekommst ja doch auch mal was mit.» Tom applaudierte mir zu. «Danke, Tom, aber nun weiter bitte.» «Nun, auch wenn die Klatschspalten etwas anderes schreiben, eine echte Liebesheirat war das nicht. Schau doch nur, sie ist Mitte vierzig, er siebzig irgendwas. Und sie hat mit ihrer Tech-Firma irgend so ein Internet-Gadget entwickelt und Milliarden verdient. Also keine Fantast-Milliarden an der Börse, sondern echtes Geld. Und das wollte sie nützlich anlegen. Und der Gaffer stand kurz vor dem Konkurs mit seiner Group. Sie hat ihn also weniger geheiratet, denn aufgekauft.» Mir blieb der Mund offen, Lou hing wie gebannt an Toms Lippen, nur Stefans Schmatzen und der Marktsound vom Ostmarkt füllten die Pausen. Aber Tom war noch nicht fertig: «Und Ruth hat in wenigen Monaten geschickt die Gaffer-Group saniert, hat die Bauaktivitäten, die einzig noch irgendwie profitable Sparte, aus dem Konglomerat rausgelöst, dem alten Gaffer dort als Chef eine Spielwiese gegeben und ansonsten selbst alles andere bestimmt. High-Tech und Umweltschutz, kein Stahl mehr, keine Rohstoffchemie und erst recht nicht mehr die Textilherstellung.» «Und die Faschos mit dön Eiörn habön nicht gögön das Südstadt-Projökt göworfön, sondörn gögön Ruth», ergänzte Stefan. «Und gegen die jüdische Weltherrschaft, das jüdische Kapital oder was sich sonst so in deren Hirnen eingebrannt hat», fügte Tom noch an. «Also, ich weiss ja nicht», begann Lou, «ich traue den Rechten ja einiges zu, aber das klingt doch sehr nach Verschwörungstheorie. Wieso wisst Ihr denn sowas und kein Wort davon in der Presse?» «Lou, leider ist das keine Verschwörungstheorie, es wird ja sogar noch schlimmer. Also zumindest, was die Verhältnisse bei den Felsenrain Gaffers angeht», Tom nahm den Faden erneut wieder auf, aber ich musste nochmal dazwischen: «Noch schlimmer? Fehlt nur noch, dass die Presse unter einer Decke mit den Gaffers steckt?» Irgendwie kam das wohl gereizter raus, als ich wollte, weswegen Tom seinen besonders väterlichen Ton anschlug: «Lieber Ritchie, das sind doch nur Fakten über die Welt in Klaie, nichts was Dich persönlich angeht. Also jetzt noch der Extrahammer und an den kannst Du Dich sicher erinnern. So ungefähr ein halbes Jahr, bevor die Vermählung von Friedrich Gaffer und Ruth Rosenzweig die Boulevardblätter bewegte, hatte die Gaffer-Group doch angekündigt, dass sie sich überlegt, ins Mediengeschäft einzusteigen. Nun Tele Klaie gehörte ihnen ja bereits, aber sie wollten ins Tageszeitungsgeschäft, mit einer Gratiszeitung. `Klaie aktuell` oder so hiess doch der Arbeitstitel. Angeblich ist ja der Klaiener Bote sehr tendenziös.» «Oh ja, ich mag mich erinnern, die halbe Stadtverwaltung stand damals Kopf. Das vertrauensvolle Verhältnis und die ausgewogene Berichterstattung über die Stadtpolitik, über die sich vor allem der Magistrat immer so freuten, wären in Gefahr und dem Populismus Tür und Tor geöffnet. Und was wüsste ein Industrieller schon von den Medien», berichtete Lou und ich merkte ihr an, dass es wohl auch für sie heftige Zeiten waren. «Stimmt», ergänzte ich, «in queeren Kreisen wurde das allerdings eher begrüsst, denn – nun ja – sehr progressiv ist der Bote doch nie gewesen und einige hatten da Hoffnung auf ein Gegengewicht.» «Genau, und die Gaffer-Group hat doch damals auch die Pride unterstützt, gell Ritchie?» fragte mich Tom, und kam nun mit dem Hammer: «Das haben die so eskaliert, dass es der Bote ziemlich mit der Angst zu tun bekommen hat. Und kurz vor der Hochzeit dann die Bombe, die Gaffer-Group gibt die Pläne für eine Gratiszeitung auf», Tom wurde richtig euphorisch beim Erzählen. «Und seithör nur noch schönö Göschichtön von dön Gafförs und döm trautön Paar mit dön hübschön Kindörn», Stefan grinste über beide Backen bei dieser Bemerkung.

«Schnaps?» fragte ich fast rhetorisch und alle nickten. Ich machte mich auf, um Gin für Lou und Whisky für uns Herren zu holen, den Guten für diesen Anlass. «Prost», erklang es und wir suchten uns zunächst mal zu sammeln. Lou und ich ob der Neuigkeiten, Stefan und Tom eher ob unserer Ahnungslosigkeit.

Aus Lous Gesicht wichen aber alsbald nach dem ersten Glas die Fragezeichen und ich konnte deutlich ihr Gehirn arbeiten hören, dann fing sie an, das laut zu sortieren: «Also Jungs, wenn ich das richtig verstehe, dann gab es am Mittwoch eine Gegendemo zur Bürgerversammlung zum Projekt Südstadt?» Fragender Blick in die Runde und allseits Kopfnicken. «Diese Demo haben einige Faschos genutzt und sich mit Gorillamasken getarnt und Eier geworfen, die galten aber weniger der Baumann oder gar mir, sondern sollten auf den Gaffer fliegen?» Wieder allseitiges Kopfnicken. «Aber das war nur eine Art Trick, es war ein Angriff auf die Jüdin in der Gaffer-Group, nämlich der jetzigen Frau Gaffer und das Ganze sollte gleichzeitig den Linken in die Schuhe geschoben werden?» Erneutes Kopfnicken. «Aber ergibt das irgendeinen Sinn?» beendete Lou ihre Zusammenfassung. «Für die Faschos schon. Die Bauabteilung der Gaffer-Group steht mittlerweile finanziell auf der Kippe, fast so schlimm, wie seine früheren Unternehmungen. Der Alte kanns einfach nicht mehr. Auch wenn er noch so viele Ausschreibungen dank seinen Insidern gewinnt, er muss ja drunter bieten und das bringt dann auch nicht mehr viel. Und das Südstadt-Projekt ist seine letzte Chance. Wenn das kippt, ist der weg und die Faschos hoffen, die Ehe auch. Sie hat bereits, was sie wollte und die Faschos wollen sie aus der Stadt haben. Von ihm erwarten Sie wohl auch angesichts seines Alters nicht mehr viel. Dass sie damit das gleiche wollen wie die Linken, also bei der Südstadt, trifft sich da nur bestens.» Toms Erklärung klang einleuchtend, auch wenn es mir etwas weit hergeholt erschien.

«Der alte Gaffer gilt doch als Symbol für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg in Klaie, Ritchie, Du erinnerst Dich doch sicher noch, wie es hier Ende der Siebziger aussah? Und er hat damals fast alles, was unterging, aufgekauft und dank Subventionen und jeder Menge Korruption wieder aufgebaut. Und den Faschos ne Menge Geld zukommen lassen, auf nationaler Ebene hats ja gewirkt und die Staatsgelder flossen munter weiter. Dass er es aber im freien Markt nicht kann, zeigte sich dann Jahre später. Darum die Hochzeit mit seiner Ruth. Und seither gibt’s für die Rechten keine Spenden mehr aus der Gaffer-Schatulle. Das macht die nicht froh.» Erklär-Tom war wieder in seinem Lehrermodus.

Stefan fiel mein zweifelnder Blick auf. «Na Ritchie, Zweiföl?» fragte er darum. «Ein wenig», gab ich zögerlich zur Antwort. «Es klingt ja alles stimmig, was Ihr da so erzählt, aber sind die Rechten wirklich so gut organisiert und arbeiten so planvoll?» «Komm, nimm Dir einön Joint und ich örzähl Dir noch was», er schmunzelte und ich griff bereitwillig zur Tüte und genoss sie in vollen Zügen.

«Ich bin doch aus Niedör-Börgön», begann er. «Ja, ich weiss und wir alle hören es, aus Nieder-Bergen», ich betonte extra das e, das er immer zu einem ö formte. «Ja nönn ös wie Du willst, ist ein braunös Kaff. Da ist Klaiö noch harmlos.» Lou schenkte sich noch ein Glas Gin ein, ihr war offenbar auch nicht wohl, was jetzt noch kommen könnte. Stefan fuhr fort: «1982, meinö Muttör arbeitötö zu dör Zeit in einöm jüdischön Kindörgartön. Sie war nicht söhr röligiös, abör ihr war das wichtig. Vatör war das wurscht, ör war schon langö in keinör Kirchö möhr.» «Du bist halb-jüdisch?» fragte ich ungläubig. «Na wönn Du das so nönnön willst, Röligion war in dör Familiö nicht wichtig, abör Muttör wolltö ihrö Hörkunft nicht vörleugnön. Drum dass mit döm jüdischön Kindörgartön. Meinön böschnittönön Schwanz könnst Du ja», er blinzelte mir vielsagend zu, «das ist noch ein Röst davon. Öndö dör siebzigör, Anfang dör Achtzigör wurdö das mit dör braunön Pöst in Niedör-Börgön immör schlimmör. 1982 einös Tagös wolltö mein Vatör meinö Muttör von dör Arbeit abholön, ör stand böreits vor döm Kindörgartön und wartötö auf sie. Da ging im Göbäudö einö Bombö hoch, zum Glück keinö ganz grossö. Ör, bravör Bürgör, wie ör ist, rief sofort die Polizei, Tölöfonzöllö wohlgömörkt, die meintö nur, sie kommön, sobald sie könnön. Da marschiertö ör sölbör ins Göbäudö, um nach Muttörn zu suchön. Ör fand sie unvörlötzt, aber ein fünfjährigör Bub war schwörvörlötzt. Ör schafftö dön raus, packtö ihn in seinön Wagön und brachtö ihn ins Krankönhaus. Konntö göröttöt wördön.» Wir hingen an jedem seiner knappen Worte, was kam jetzt dann noch? «Am Abönd um siebön kam das Börgönör Aböndblatt raus – tollö Übörschrift, `der Held von Bergen`, mit Foto von meinöm Vatör und dör Adressö. Kannst Dir ja dönkön, warum?» Ich schüttelte den Kopf: «Nein, das ist mir jetzt zu hoch.» «Na um dön Mob aufzuhötzön. Um acht abönds die örstö Morddrohung pör Tölöfon, um acht Uhr morgöns hattön wir allös göpackt und sind hier nach Klaiö göflohön. Meinö Tantö hat hier ein Haus, keinö Kindör, da sind wir untörgökommön. So göht das in Niedör-Börgön.» Stefan schnaubte schwer und er zitterte leicht, da kam einiges hoch. «Meine Güte, was für eine Scheisse», Lou fand als erste wieder Worte. Tom nahm seinen Mann in den Arm und irgendwie war jede Stimmung dahin. Wortlos nippten wir an unseren Getränken und liessen den Joint zirkulieren.

Eine gute Viertelstunde die erste Wortmeldung in diese Stille, die vorher nur vom Ziehen am Joint und dem einen oder anderen Seufzer unterbrochen worden war. Tom teilte mit: «Stefan und ich gehen jetzt gleich los, Stefans Eltern feiern Hochzeitstag und wir helfen noch beim Vorbereiten und bleiben dann auch über Nacht dort. Stefan, hast Du den Sekt bereits im Auto?» Stefan nickte. «Ist es ein besonderer Hochzeitstag?» fragte Lou. «Nein», antwortete Tom, «der 58., aber da er grad auf einen Samstag fällt, feiern Sie mal wieder.» «Meinö Öltörn, öcht das Traumpaar dös Jahrtausönds», ergänzte Stefan, offensichtlich hellten die Gedanken an seine Eltern seine Stimmung auf: «Die könnön sich seit sie vier Jahrö alt sind. Hattön nie einö andörö Liebösböziehung als sich zwei. Und immör noch ein Hörz und einö Söölö.» Stefan ernstes Gesicht wich wieder seinem natürlichen, maskulin-fröhlichem Anblick. «Dann feiert recht schön und grüsst mir das Traumpaar, mögen ihnen noch viele gemeinsame Jahre bevor stehen», ich kam mir vor wie ein Diplomat, als ich das aussprach. «Dankö, richt ich aus. Und Dir viel Spass mit Thomas», Stefan zwinkerte mir recht aufmunternd zu, «mögön Euch vielö gömeinsamö Stundön böschört sein.» Ach manchmal war er unbezahlbar und wir konnten alle wieder recht herzlich lachen.

Lou bat mich, den Brunch zu verräumen und für etwas Ordnung zu sorgen. Ich sagte bereitwillig zu, Hausarbeit war immer ideal, um meine Nervosität vor einem Date zu beruhigen, erst recht vor diesem. Herrjeh, ich fühlte mich echt wie ein Teenager. Ich schaltete mir noch den alternativen Lokalfunk ein, mal hören, ob es in Klaie Neuigkeiten jenseits des Mainstreams gab, aber der Infowert hielt sich für fleischessende, sportferne Schwule in argen Grenzen.

 

 

 

3 Date

 

Als es wieder sauber und blitzblank war, ging es auf die zwei Uhr zu, da wollte noch Mohrle ihre Bespassung und auch dieser Aufforderung kam ich gerne nach, und gut eine halbe Stunde später mit ihren Lieblingsspielzeugen, war es ihr dann auch genug und sie zog sich ins Zimmer von Tom und Stefan zurück, vermutlich, um wieder auf einem liegengebliebenen Kleidungsstück von Stefan ihren Schlaf zu geniessen. «Ritchie?» suchte mich Lou mit ihrer Stimme. «Ja, Lou, was ist?» «Gute Nachrichten für Dich, Du hast heute sturmfreie Bude.» «Super, wo wirst Du sein?» «Bei Iris, wir gehen jetzt noch auf einen Nachmittagskaffee, dann ins Kino – vermutlich, und dann zu ihr – ganz gewiss», sie dehnte ihre Aussagen bewusst, damit auch ich schnallte, was die Stunde geschlagen hat. Darum fragte ich ganz lapidar: «Iris? Wer ist nochmal Iris?» «Die kleine Dralle vom Obststand heute Morgen, wir haben festgestellt, dass wir uns schon lange nicht mehr alleine getroffen haben.» «Das habt ihr also festgestellt?» «Nun ja, sie hat vorhin angerufen, weil sie sich gefreut hatte, mich heute Morgen auf dem Markt gesehen zu haben, da haben wir das f e s t g e s t e l l t.» Ich musste lachen, Lous Haremsorganisation funktionierte wieder mal hervorragend. «Na dann, viel Vergnügen. Und schon mal danke, ja ich werde es mir auch vergnüglich machen.» Wir grinsten uns sehr verschwörerisch an.

Es blieben mir aber immer noch einige Stunden bis ich mich zum Löwen aufmachen durfte. Ich entschied mich, die Strassenbahn zu nehmen, mit dem Fahrrad käme ich wohl verschwitzt an und das schien mir fürs erste Date unpassend. Danach musterte ich mal meinen Kleiderschrank: `Lässig, sexy, alternativ? Herr Gaffer, was darfs denn sein?` führte ich Selbstgespräche mit mir. `Auf alle Fälle, nicht zu seriös und etwas weiteres, was den Bauchansatz besser kaschiert.` Am Ende landete ich doch bei meinem hellblauen Lieblingshemd mit dem weissen Kragen und einer Bluejeans. Aber immerhin eine Entscheidung getroffen.

Ich goss mir noch einen Whisky ein und liess mir dann ein Vollbad ein. Vielleicht gabs noch das eine oder andere hartnäckige Brusthaar zu rasieren, ab und zu wollte ja eins spriessen. Ausserdem liess sich nachher auch das Gesicht leichter rasieren. Wenn mir schon kein anständiger Bart wuchs, dann aber auch nicht so angestoppelt daherkommen. Jetzt, wo alle Welt Bart trug, war ich dann ja mal die Ausnahme. Und offenbar eine, die Thomas für datewürdig erachtete, er mit seinem schönen schwarzen Vollbart.

Mit Baden, Körperpflege, Surfen und Vorfreuen schaffte ich es dann doch noch, die Zeit totzuschlagen und ich machte mich auf den Weg zum Löwen, eine Minute vor Acht stand ich vor dem schönen alten Gebäude mit dem grossen Löwenkopf über dem Eingang. Es war bereits gut besucht und auch die Gartenterrassen waren voll. `Hoffentlich finde ich ihn rasch`, schoss es mir durch den Kopf. Ich betrat das Lokal und blickte zuerst Richtung Bar, und da sah ich ihn bereits, und er mich auch. Er war zwar gerade im Gespräch mit einem feingekleideten Herrn, hatte aber offenbar meine Ankunft auch eifrig erwartet. Wow, sah Thomas gut aus, er hatte sich offenbar extra den Bart nochmal getrimmt, sein T-Shirt hatte einen ausreichend grossen Ausschnitt, um sein Brusthaar erkennen zu können, eine Figur, wie aus einem Männerkatalog, die strahlend blauen Augen und dieses hinreissend charmante Lächeln. Ohne die Augen von ihm zu lassen, ging ich auf ihn zu, er erhob sich, breitete die Arme aus und umarmte mich zur Begrüssung: «Hallo Ritchie, schön, dass es geklappt hat. Gut siehst Du aus.» «Oh Danke, hallo Thomas, hab mich auch schon den ganzen Tag auf heute Abend gefreut. Und gleichfalls», ich liess die Umarmung los, ging einen kleinen Schritt zurück und sah ihn von oben nach unten und wieder nach oben an: «Du siehst grossartig aus.» Thomas lachte freundlich und etwas verlegen, vielleicht war ich doch eine Spur zu offensiv gewesen. Dann kam sein Gegenüber ins Spiel. «Ritchie, darf ich Dir vorstellen, Herwig Gaffer, von den Felsenrain Gaffers. Herwig, das ist Ritchie, Chef von Klaqueur und ich glaube, auch ein Gaffer.» Wir mussten alle kurz auflachen. «Hey, hello Ritchie, freut mich, von welchen Gaffers bist Du denn?» «Keinen besonderen, den Klaie-Gaffers?» Ich malte ein Fragezeichen in die Luft: «Aber definitiv nicht mit Euch vom Felsenrain verwandt.» «Na besser ist das – für Euch», Herwig rollte die Augen. `Was ist denn mit dem los`, wunderte ich mich für mich. «Und, woher kennt Ihr Euch?» fragte ich in Richtung Thomas. «Ich hab Herwig hier um sechs getroffen, für ein paar Recherchen zu meinem Gaffer-Artikel. Und Herwig war bereit, mir für ein paar Auskünfte zur Verfügung zu stehen», erklärte mir Thomas. «Hey Ihr zwei, was wollt Ihr trinken, ich geb einen aus», mischte sich Herwig ins Gespräch. Offensichtlich wollte er Thomas und mich nicht unserem Date überlassen. «Whisky gerne», sagte ich zu Herwig und Thomas schloss sich an: «Whisky klingt gut.», er grinste mich an, eine Einladung von den Felsenrain-Gaffers durfte durchaus was kosten.

«Hast Du einen angenehmen Tag nach der gestrigen Eier-Hektik gehabt?» nahm Thomas wieder den Gesprächsfaden auf, während Herwig sich lautstark und gestenreich um einen Barkeeper bemühte. «Danke. Ja mit der WG-Familie. Wir haben samstags immer unseren gemeinsamen Brunch, damit wir ungefähr wissen, was bei den anderen so los ist.» «Ehrlich? WG ist nicht so meine Welt, während dem Studium war ich in einer, bitte nicht wieder.» «Ist nicht jedermanns Welt», reagierte ich auf Thomas Einwand, «das geht auch nicht mit jedem, aber wir vier, das geht recht gut.» «Ihr vier? Wer ist denn ausser Dir und Stefan samt Mann noch dabei?» «Unsere Lou, wegen Ihr sind wir gestern doch ins Spital gekommen, sie ist unsere Vierte im Bunde. Ihr gehört die Wohnung.» «Ach drum, ich wollte eh fragen, was Ihr mit den Eieropfern zu tun habt.» «Die Baumann ist Lous Chefin», ergänzte ich noch, um das Bild vollständig zu machen.

«Hey Leute, jetzt mal Prost.» Herwig hatte es geschafft, die Getränke zu ordern und gab jedem von uns ein Glas und wir stiessen gemeinsam an. «Auf einen gelungenen Abend», ergänzte er. Thomas und ich sahen uns etwas unschlüssig an und nickten uns dann bedeutungsschwanger zu, ja da war einer etwas angekokst. Er machte aber keinerlei Anstalten sich davon zu machen, stattdessen erzählte er uns von seinen diversen Urlauben in der ganzen Welt, seinen Segeltörns und sonstige Anekdoten aus der Welt der Jet-Setter. Thomas und ich hatten auch irgendwie keine Energie, seinen Redefluss gross zu unterbrechen. Irgendwann stoppte er seine Erzählungen und fragte: «Hey, hab ich das grad richtig gehört, Du wohnst mit Stefan zusammen? Diesem kleinen Fitnesswunder, hinter dem ganz Klaie her ist?» Ich war überrascht über diese Beschreibung und nickte nur. Danach war Herwig wieder bei seinen Lebensgeschichten.

Kurz vor neun klingelte dann Thomas Telefon und er ging kurz vor die Tür, um in Ruhe sprechen zu können. Kurze Zeit später kam er zurück, wirkte etwas enttäuscht, kam auf mich zu, küsste mich ganz unerwartet und sehr intensiv, dann erst sprach er: «Sorry Ritchie, das war die Redaktion. Ich muss los. Mist, so hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt.» Er blickte kurz in Richtung Herwig: «Erst der und dann das. Ich hoffe, Du hast Verständnis und ich darf mich bei Dir wieder melden?» Jetzt nahm ich seinen Kopf in meine Hände und küsste ihn ganz tief: «Ich würde mich sehr, sehr freuen.» Er grinste wieder und ich merkte, wie mir dieses Grinsen gefiel. «Was ist denn so Dringendes los, dass Du so kurzfristig wegmusst?» fragte ich dann aber noch. «Die haben auf der Redaktion einen Insider-Tipp bekommen, offenbar wird es heute in Klaie noch heftig, die Linken wollen bei der Kurzstrasse die Faschos stellen.» «Kurzstrasse? Da wo die Faschos bevorzugt zu Hause sind? Das heisst…» Er unterbrach mich: «Genau, die Linken wollen offenbar dort mal aufmischen. Ich weiss noch nicht genau, warum und wieso, aber besser ich bin dann vor Ort. Vielleicht gibt’s ja was Exklusives.» Er lächelte nochmal kurz, gab mir noch einen Lippenkuss: «Bis bald», und weg war er. Herwig hatte offenbar gerade seine Aufmerksamkeit woanders gehabt, jedenfalls fragte er auf einmal: «Hey, was ist los? Wo ist er hin?» «Einsatz, irgendein Insidertipp.» Er sah nicht so aus, als würde er verstehen, aber es schien ihm auch egal zu sein. «Das heisst, jetzt nur noch wir zwei». Er setzte ein sehr schmutziges Lächeln auf und ich wusste nicht so genau, was er damit andeuten wollte, ich erwiderte aber nur: «Erstmal ein Bier, so gegen den Durst. Du auch?» «Ey nein, ich bleib beim Whisky, Bier wirft mich nur zurück.» «Hey, Du bist also der Chef von unseren Brüdern und Schwestern?» fing er auf einmal zu fragen an. «Wenn Du das so nennen willst, halt der Geschäftsführer vom queeren Verein in Klaie.» «Hey, Mensch, queer, sind die nicht mehr schwul oder lesbisch?» «Auch, aber nicht nur.» `Bitte nicht wieder eine Grundsatzdebatte zu dem Thema, ich bin doch nicht auf Arbeit`, schoss es mir durch den Kopf. «Na egal, hey, Ritchie? Ist doch richtig Ritchie?» «Ja Ritchie ist richtig.» «Was bist du denn so für einer?» Ich sah ihn fragend an «Was für einer soll ich sein?» «Hey, Du weisst schon, top, bottom, Leder, SM, Blümchensex?» Das kam überraschend und war mir grad recht unangenehm. «Nicht sehr festgelegt, eher offen und neugierig auf den anderen», wich ich mit meiner Antwort aus und war froh, dass uns der Barkeeper das Bier und frischen Whisky hinstellte, ich nahm gleich fast die kleine Flasche auf einmal. Ich merkte aber wie mich Herwig musterte. Und ein Hässlicher war er ebenfalls nicht, fiel mir dabei auf. Kantiges, gepflegtes Gesicht, gesunde Hautfarbe, blonder Goatee und leicht welliges Haar, Schwimmerfigur, pedikürte Finger und in seinem modischen Anzug durchaus appetitlich anzusehen. Da er immer noch am Mustern war und dadurch mal still, fing ich mal zu fragen an: «Und Herwig, was macht so ein Felsenrain Gaffer beruflich?» Damit hatte er wohl nicht gerechnet, jedenfalls brauchte er einen Moment, um zu antworten. «Hey, ich bin Unternehmer, wie mein Vater. Mach aber in Start-Ups, vier hab ich bereits aufgebaut und drei davon an die Börse gebracht. Und ich such gerade nach einer neuen Aufgabe.» Mit seinen letzten Worten griff er mir in den Schritt, beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: «Zu mir oder zu Dir?» Ich war doch recht perplex, konterte aber rasch: «Und ich soll Deine nächste Aufgabe sein?» Er grinste wieder mit seinem schmutzigen Lächeln, das gehörte wohl zu seinem Repertoire: «Lieber meine nächste Beute. Also zu mir oder Dir?» `Was solls`, dachte ich mir, `mit Thomas wird das heute eh nichts mehr und sturmfrei ist auch`. Ich spürte mittlerweile den Whisky und das Bier, das machte mich nicht gerade willensstark noch prinzipientreu, aber was sollte es auch für ein Prinzip sein, eine Chance nicht zu nutzen? «Gern zu mir.» «Hey super, ich lass uns ein Taxi kommen.» Er fischte sein Telefon aus dem Anzug und rief per App ein Taxi. Wenige Minuten später sassen wir im Fahrzeug und fuhren Richtung Ostmarkt. Seine Hände legte er sowohl in seinen wie in meinen Schritt und mein Blut wanderte zunehmend in diese Richtung.

Nachdem wir uns an Mohrle per Wegzoll vorbei Zugang zur Wohnung verschafft hatten, lotste ich ihn zu meinem Zimmer. Gut, hatte ich in weiser Voraussicht schon alles parat gemacht. Die Schale mit den Kondomen, das passende Gleitmittel, Poppers und diverse Spielzeuge standen bereit. Im Nu hatten wir uns aus unseren Textilien geschält, da machte sich Herwig über mich her und liess die nächsten zwei Stunden nicht mehr ab. Er war definitiv ausschliesslich der Aktive, aber das dafür gekonnt und höchst potent. Er hatte wohl neben seinem Koks auch noch anderes intus. Ich genoss auf alle Fälle sein Können und seine geschickte Art und liess ihn machen. Nachdem er mir noch einen grossartigen Orgasmus verschafft hatte, fiel ich ziemlich müde mit dem Kopf auf seine Brust und kurz darauf auch in einen tiefen Schlaf.

Gegen vier wachte ich wieder auf, Herwig war nicht mehr in meinem Zimmer, ich musste eh auf die Toilette und sah dabei in der Küche Licht brennen. Nach meiner Erleichterung ging ich also direkt dorthin und sah ihn nur in seinen Shorts am Telefon sitzen. «Hey, Geiler, na noch eine Runde?» Da war es wieder, sein schmutziges Grinsen. Ich lachte nur kurz entsetzt auf und sagte höflich, «Nein danke. Und Du? Hast Du überhaupt geschlafen?» «Nein, ich bin ziemlich aufgekratzt, das Koks heute war gut. Ich hab mir aus Eurem Kühlschrank ein Bier genommen, ich hoffe, das ist okay?» «Ja sicher. Und gibt’s was Neues in der Welt?» «Krawall in der Kurzstrasse. Muss heftig gewesen sein. Dein Thomas hat schon einen ersten Bericht online.» «Lass mich sehen.» Ich schnappte mir sein Telefon, wogegen er sich gar nicht wehrte. «Schwere Krawalle in der Klaiener Kurzstrasse. Überwachungskameras waren erstes Opfer», las ich laut vor. «Das sieht sehr geplant aus», sagte ich zu Herwig und dieser nickte. «Kannst ja nachher noch lesen, soweit Thomas recherchiert hat, gab es Strassenkämpfe währenddessen die Wohnungen von ein paar stadtbekannten Nationalisten geplündert und vor allem Dokumente und Laptops entwendet wurden», berichtete er mir kurz. Mich wunderte noch, dass er `Nationalisten` sagte, üblicherweise sprach man in meinem Umfeld von den `Faschos`. «Aber jetzt, wo Du auf bist, kann ich mich auch langsam verabschieden», wechselte er das Thema: «Bei uns Gaffers gibt’s sonntags immer Familien-Mittagessen, scheussliche Tradition, vor allem predigt mein Vater dann sicher wieder und lobt sich für all seine Erfolge.» «Ist nicht leicht, ein Felsenrain-Gaffer zu sein?» fragte ich mit anteilnehmendem Unterton. «Ach, Ritchie, man gewöhnt sich daran, die Homestories, die Urlaubsfotos und immer wieder Politiker und Industrielle im Haus. Und seit Ruth da ist, das Ganze noch doppelt und dreifach. Plus Internetmedien. Naja, aber ich will nicht jammern, hat ja auch Vorteile.» Jetzt grinste er auf einmal wie ein ertappter Schulbub. «Ich würd mich freuen, wenn wir das mal wiederholen wollen», sagte er, dann zog er sich an und war kurz darauf verschwunden. Ich legte mich wieder ins Bett und schlief auch bald erneut ein.

 

 

 

4 Sonntag

 

Kurz nach neun wachte ich erst wieder auf, fühlte mich aber sofort hellwach, munter und tatendurstig. Rasch kletterte ich aus dem Bett und ging den langen Flur in Richtung Küche, vorbei am Zimmer von Lou und Stefan und Tom, um mir einen Morgenkaffee zu gönnen. Dort traf ich auf Lou, ihr musste es gut gehen, denn vor ihr auf dem Tisch befand sich nicht nur eine grosse Tasse Kaffee, sondern auch noch ein Rest von offenbar einmal zwei Tortenstücken. Das gabs nur, wenn es Lou sehr, sehr gut ging. «Guten Morgen Ritchie», säuselte sie mir entgegen und ihre Stimme klang leicht, federnd und zufrieden. «Ich hab Dir auch ein Stück Kuchen mitgebracht». «Mmmmh, Du bist ein Schatz und kannst Gedanken lesen», lobte ich sie, liess mir meinen Kaffee raus und setzte mich zu ihr. Mohrle trabte auch zu uns und schien ebenso neugierig zu sein wie ich. «Details bitte, dass es Dir gut geht, weiss ich bereits», forderte ich Lou auf, zu berichten. Sie lächelte mich an und meinte kurz und knapp: «Fantastisch, einfach wunderbare Stunden gehabt und ein Knutschfleckautogramm auf meiner linken Pobacke.» Wir lachten herzlich und ich beliess es dabei, so sehr brauchte ich dann weitere Details nicht. «Und Du? Ist Thomas der Mann deiner Träume?» «Im Moment ist er nach wie vor nur im Traum ein Traum», nahm ich ihren Faden auf. «Wie, was ist passiert?» «Arbeit ist passiert. Wir trafen uns doch im Löwen?» «Ja das ist mein bisheriger Wissensstand.» «Er war aber nicht allein dort, hatte Herwig – obacht – Gaffer im Schlepptau.» «Schlepptau? – Sind die zwei zusammen? Dein Presse-Fritze und der Felsenrain-Beau?» «Felsenrain-Beau? Du liest die Klatschpresse offenbar sehr gut.» Ich grinste sie an: «Nein, nein, das nicht. Die hatten sich bereits um sechs dort getroffen, Thomas macht derzeit etwas zu den Gaffers und Herwig hatte sich bereit erklärt, ihm Auskunft zu geben.» «Ach so. Und Du hast Dir Deinen Namensvetter gekrallt, statt Dein ursprüngliches Opfer?» «Menno, Lou, kannst Du teilweise Gedanken lesen?» «Ich dachte, ich könnte es ganz», sie lachte und nahm sich noch einen Bissen von der Torte. «Es lief leicht anders, Thomas bekam um neun einen Anruf, dass er dringend zur Kurzstrasse musste.» «Da wo es heute Nacht Krawalle gab? Ich hab vorhin mal im Internet was gesehen.» «Ja, seine Redaktion hat da einen Tipp bekommen. Jedenfalls musste er weg. Aber – ach – er hat sich so charmant von mir verabschiedet, mir werden jetzt gleich wieder die Knie weich, wenn ich daran denke.» «Du Romantiker Du, das kenne ich ja eher weniger von Dir.» Sie stupste mich mit der Kuchengabel leicht in die Seite. «Das unromantische kommt gleich. Herwig Namensvetter Gaffer hat eine Runde nach der anderen ausgegeben und sich recht locker an mich rangemacht. Und nach dem fünften oder zehnten Whisky hab ich nachgegeben. So in etwa.» «Also eher leichte Beute als Romantiker?» Sie stupste noch einmal, dafür nahm ich ihr erstmal die Gabel weg und klaute ihr ein Stück von der Torte. «Aber, Lou, es hat sich gelohnt. Herwig Namensvetter ist eine ziemliche Sau im Bett und durchaus eine lohnende Mahlzeit.» «Muss verwandt sein mit Iris», gab sie zurück und wir schauten uns amüsiert an.

Mohrle wollte nun auch mehr Aufmerksamkeit und sie nahm umständlich und unter viel Kneten auf Lous Schoss Platz. Ich konnte so für Kaffeenachschub sorgen und den Gesprächsfaden wieder aufnehmen. «Sag mal Lou, wie ist Dir das gestern eigentlich eingefahren, was Tom und Stefan erzählt haben?» «Ach gut, dass Du damit anfängst, mir liegt das auch auf der Seele. Also, ehrlich, bei Stefans Familiengeschichte wär mir beinahe mein guter Gin aus der Hand gefallen und ich vom Stuhl. Wusstest Du, dass er Jude ist?» «Na, ist er ja offenbar nicht, zumindest lebt er es nicht und erzählt hat er bislang auch noch nie ein Wort davon. Und – ich mein ja nur – er ist mit einem Katholen zusammen – wer denkt denn da an sowas? Ausser seiner Beschneidung wies da nichts darauf hin und für die könnte es auch andere Gründe geben.» «Echt? Welche?» «Na medizinische oder vermeintlich hygienische. Meinen Eltern hat man damals auch noch dazu geraten, sie fanden das aber irgendwie barbarisch.» «Und das mit den Gaffers und der ganzen Verschwörung – ich weiss nicht. Plausibel klang es immerhin, aber ich mein, wir leben doch in Klaie und sind auch nicht ganz dumm. Meinst Du nicht, wir hätten da irgendwas mitbekommen?» «Ich kenne die Felsenrain-Gaffers halt eher notgedrungen und den Alten hab ich nur einmal persönlich getroffen, als er für die Pride gespendet hat. Das war eine ziemliche Medienshow. Und dass er die Konservativen bis ganz rechten Parteien unterstützt, das war jetzt keine so grosse Neuigkeit, dass er aber auch die Faschos finanziert, was hat er sich davon versprochen?» «Genau, das ist das, was mich an der Geschichte stutzig macht. Und eben diese Detailkenntnisse – woher haben die beiden das nur?» Sie schüttelte kräftig mit dem Kopf und machte ein sehr irritiertes Gesicht. Selbst Mohrle wachte davon auf und sah sie ganz entgeistert an. Kaum hatte Lou sie durch sanftes Kraulen am Kinn wieder beruhigt, sprang sie blitzartig auf und rannte zur Tür. Kurz darauf hörten wir einen Schlüssel ins Schloss fahren, wie sich die Haustüre öffnete und Tom und Stefan ihren Wegzoll beglichen. Schnurstracks kamen die beiden zu uns in die Küche. «Hallo zusammen», rief Lou, «Hi» kam aus den beiden nur raus. «Mensch, Ihr seht fertig aus, was ist denn mit Euch passiert?» Ich warf nun auch einen Blick auf die Beiden und Lou hatte recht, völlig übermüdet standen sie da, hängende Schultern und Stefans rechte Augenbraue war blutunterlaufen und verschrammt.

«Was war das denn für eine Feier?» fragte ich völlig verwundert. «Die Feier war eher harmlos und wir sehen sicher nicht deswegen so aus», fing Tom an mit der ersten Antwort. Dann sahen er und Stefan sich verstohlen an, nickten beide und Tom fuhr fort: «Wir waren danach noch am Kurzweg.» Grosse Pause. Lou und ich sahen uns fragend an. «Am Kurzweg? Was habt Ihr denn da zu suchen gehabt?» fragte Lou völlig fassungslos. Wieder ein verstohlener Blick zwischen den Beiden, ein gegenseitiges Nicken, dann Stefan: «Faschos kloppön.» Noch grössere Pause, dann ich sehr verwirrt und ein wenig aufgebracht: «Wieso geht Ihr Faschos kloppen? Seid Ihr noch ganz dicht?» «Ganz ruhig, Ritchie», unterbrach mich Tom unerwartet sanft. Dann schon wieder die beiden mit ihrem Blick und anschliessendem Nicken. «Wir haben das Euch bisher noch nie erzählt, aus vielen, aus vielen guten Gründen, aber Stefan und ich sind seit Jahren in der Antifa aktiv.» Lou und ich tauschten nun ebenfalls unsere Blicke und mir stand wohl eben so viel Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben wie ihr. «Ihr in der Antifa? Seit Jahren? Und gestern wart Ihr Faschos kloppen? – Das ist mir jetzt zu hoch.» Ich holte das Jointglas und reichte es den Männern, die dankbar zugriffen, dann nahm ich für Lou und mich auch einen raus. Nachdem alle einen Zug genommen hatten, übernahm Tom wieder das Wort: «Lassen wir mal die Tatsache bei Seite, dass wir da schon länger aktiv sind, aber mit der Eierwurfgeschichte kam jetzt eine neue Dimension ins Spiel.» Wieder einmal klebten wir an Toms Lippen. «Die Faschos scheinen etwas vor zu haben, warum auf einmal das Manöver mit den Gorillamasken? Wieso bei einem der zentralen Projekte der Bauabteilung der Gaffer-Group? Irgendetwas planen die und wir brauchen Beweise.» «Und deswegen drischt Ihr auf sie ein?» Lou verstand offenbar ebenso wenig wie ich. «Das war nur Ablönkung», warf Stefan ein. «Ablenkung? Von was ablenken?» Selbst der Joint konnte meine Stimme nicht mehr beruhigen. «Wir können doch keine offizielle Razzia oder eine amtliche Hausdurchsuchung bei den Faschos machen, oder Ritchie?» Oh diesen väterlichen Ton von Tom konnte ich gerade gar nicht vertragen, aber ich wollte jetzt unbedingt mehr wissen. «Wohl eher nicht», gab ich halb rhetorisch zurück. «Darum haben einige dafür gesorgt, dass möglichst viele ihre Wohnungen verlassen und mitmischen und die anderen in Ruhe Beweise suchen können.» Tom klang fast triumphierend, als er diese Pläne darlegte. «Und ist Euer Plan aufgegangen?» fragte Lou. «Besser als wir erhofft hatten, wir konnten sechs von geplant sieben Wohnungen durchkämmen und was wir bisher auswerten konnten, wird das noch einige politische Bomben bergen.» Ich kam mir vor wie in einer völlig unwirklichen Filmszene – passierte das wirklich hier in unserer Küche? «Und darfst Du schon was sagen, welcher Art Bomben das sein werden oder ist das top secret?» Lou schien etwas die Geduld zu verlassen. «Gemach, gemach, liebe Lou. Was ich jetzt schon sagen kann, der alte Gaffer hat definitiv die Faschos bezahlt. Und die Gorillaaktion ist zu 200 Prozent von den Faschos durchgeführt worden.» «Du hast also ein rechtös Ei aufs Augö bökommön», höhnte Stefan dazwischen und trotz der bizarren Situation mussten wir kurz lachen. Hatte auch gerade etwas Befreiendes. «Aber Tom, Du als Strassenkämpfer? Das kann ich mir kaum vorstellen.» «Brauchst Du auch nicht, Ritchie, Tom ist möhr für die Dokumöntö zuständig, ich möhr für das – pörsönlichö.» Stefan ballte dabei seine rechte Faust und schlug sie in seine offene linke Hand. «Du vörstöhst?» Und wie ich verstand. «Aber keine Sorge Ritchie», Tom ergriff wieder das Wort. «Viel Schlägerei gab es gar nicht. Und das haben wir mal der Polizei zu verdanken.» «Wie das?» fragte Lou immer noch im Zustand höchster Verwirrung. «Die haben sich wieder mal vor allem die Linken vornehmen wollen, aber da wir uns geschickt postiert hatten, wussten sie nicht recht, wo genau zugreifen. Und für die Faschos sah es einfach nur nach Riesentumult aus und so kamen von denen immer mehr auf die Strasse – was hiess, die Wohnungen leerten sich schneller und vollständiger, als wir das je hätten planen können.» Er lachte triumphierend und erleichtert. «Das am Augö kommt übrigöns vom Gummischrot, dass sie eingösötzt habön, ich hattö nur zweimal Körpörkontakt», ergänzte Stefan.

«Und wie seid ihr dann ohne grosse Festnahmen dort wieder weg?» Allmählich wich meine Verwunderung der puren Neugier. «Modörnö Töchnik», Stefan lachte laut auf und Tom ergänzte: «Eins unserer Mitglieder hat den Polizeicomputer gehackt. Zuerst hat er die Kameras in der Kurzstrasse lahmgelegt und als wir mit der Durchsuchung fertig waren, gabs für alle Polizisten einen falschen Alarm. Angeblich wäre der Auftritt in der Kurzstrasse nur ein Ablenkungsmanöver, um in der Südstadt richtig Krawall zu machen. In weniger als drei Minuten war die Kurzstrasse bullenfrei. Und die Faschos hatten so ohne Bullen rasch die Hosen voll und waren schwupps ebenfalls weg.» Stefan und Tom kamen nun nicht mehr aus dem Lachen raus und Lou und ich sahen uns nur umso verdutzter an. Als sie ausgelacht hatten, gab Tom uns dann doch noch eine Mahnung mit auf den Weg: «Bitte, das Ganze unbedingt vertraulich behalten. Wir erzählen später gern noch mehr, wenn es Euch interessiert. Jetzt wollen wir uns mal ein wenig pflegen.» «Und unsörön öhölichön Pflichtön nachkommön», Stefan war immer noch im Clownsmodus.

«Viel Vergnügen», rief Lou ihnen noch hinter her, doch Stefan kam noch einmal zurück und nahm mich ins Visier: «Ich will dann spätör noch wissön, wie ös Dir mit Thomas ging.» Er grinste breit und war dann endgültig verschwunden.

«Liebe Lou, was meinst Du passiert hier noch, von dem wir nichts wissen?» fragte ich und Lou zuckte mit den Achseln: «Ich hab nach den beiden Tagen keinerlei Fantasie mehr. Aber ich muss sowieso noch verdauen, dass ich ein rechtes Ei im Gesicht hatte.» Nun mussten wir aber herzlichst lachen.

Mir kamen vor lauter Lachen schon Tränen in die Augen und gerade als ich mir wieder eine Träne abwischte, klingelte mein Telefon. Ziemlich beschwingt meldete ich mich: «Gaffer hier, von den Klaie-Gaffers.» «Hahaha, hallo Ritchie, hier Thomas, na Du bist ja in guter Stimmung?» Wupps, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet, jetzt kamen zu der guten Stimmung gleich auch noch weiche Knie. Lou sah mich mit grossen Augen an und formte mit ihren Lippen das Wort «Thomas» samt Fragezeichen, ich nickte und schaltete gleich auf Charmeurmodus. «Hallo Thomas, ja bin ich, aber wo ich jetzt Deine Stimme höre, in noch besserer.» «Das freut mich echt zu hören, mir ist das mit gestern Abend noch ziemlich peinlich.» «Ach hör auf, mach Dir darüber keinen Kopf mehr.» «Dann mach ich das und nutze die Gelegenheit, Dich zu fragen, ob Du an diesem Sonntagnachmittag schon was vor hast? Ich hätte Wein, Bett und Lust auf Dich im Angebot.» Sein Schmunzeln war deutlich zu hören und dieser Schalk im Nacken war mir sehr sympathisch. «Mmmmhhh, dafür hat es hier grosse Nachfrage. Wann ist denn das Angebot zu begutachten?» «Das wäre ab 13 Uhr möglich, und heute ganz exklusiv für Dich.» «Grossartig, ich mach mich grad noch frisch und dann radel ich zu Dir, wo ist das eigentlich?» «Ach stimmt, Du hast ja noch keinen Lageplan. Ich schick ihn Dir, aber schonmal zum Merken, Helenenstrasse 27.» «Ah das kenn ich, brauchst nichts schicken, das sind keine zehn Minuten mit dem Fahrrad. 13 Uhr, das schaffe ich super und pünktlich.» Er wechselte seine Tonlage, sehr zu meinem Gefallen: «Danke, ich freu mich wie ein kleines Kind, werde mich aber wie ein Mann zu benehmen wissen.» Beim Wort Mann senkte er seinen schönen Bass glatt noch eine Oktave herunter. «Das gleiche werde ich auch versuchen.» Doch anstatt dass sich meine Stimme senkte, schnellte sie eine Oktave höher. Mist der Joint führte zu nichts Gutem, aber das könnte ja noch nützlich sein. «Fahr vorsichtig, heute sind wieder Sonntagsfahrer unterwegs. Und klingeln bei Weissburg.» «Ja Danke, mach ich beides, bis bald Thomas.» «Ciao Ritchie.»

Lou schüttelte zustimmend den Kopf und umarmte mich fest: «Na das klingt doch, als wäre da einer schon halb verliebt?» «Du und Deine weibliche Intuition, ja Scheisse, das bin ich wirklich. Wie ein Teenager.» Lou grinste nur und liess mich davonziehen.

Meine Körperpflege brauchte jetzt nicht mehr lange, hatte ich sie doch bereits am Vortag schon gemacht und so schnell waren meine paar Haare nicht. Ausserdem, so ein bärtiger Mann, der wird sich schon nicht an ein paar Stoppeln stören. Als ich zu meinem Bad lief konnte ich aus dem Zimmer von Tom und Stefan deutlich hören, dass das mit den ehelichen Pflichten kein Scherz war. `Überall das gleiche Sonntagsprogramm`, dachte ich mir noch.

Ich radelte dann los zur Helenenstrasse, dorthin kam ich ohne gross Hauptstrassen nutzen zu müssen durch kleinere Parks und Wohngegenden. Das Herz klopfte mir nicht durch die kurze Strampelei bis zum Hals, als ich bei Thomas klingelte. Rasch ging die Tür auf und ich hörte gleich seinen Ruf: «In den zweiten Stock bitte.» Forschen Schrittes sprang ich die zwei Etagen rauf und sah ihn in der Tür stehen, enge Jeans und darüber ein saloppes, weit ausgeschnittenes T-Shirt, das freien Blick auf seine Brustbehaarung liess, strahlendes Lächeln und seine freundlichen blauen Augen. Bereits noch im Türrahmen nahm er mich fest in die Arme und kurz darauf standen wir wie verliebte Jungs am gleichen Ort, aber inniglich küssend. Nach einer guten Weile, nahm er seine Lippen von meinen weg und fragte mit leiser Stimme: «Wollen wir nicht reingehen? Ich hab auch einen guten Rotwein geköpft.» «Besser ist das. Sonst machen wir noch unanständige Sachen im Hausflur und geben den Nachbarn eine Show.» Lachend zog er mich in seine Wohnung, auf dem Wohnzimmertisch standen schon zwei gefüllte Gläser und er reichte mir eins. «Auf uns, Prost Ritchie.» «Auf uns, Thomas. Und einen schönen Sonntag.» Wir liessen die Gläser erklingen nahmen einen Schluck und machten dort weiter, wo wir im Hausflur aufgehört hatten. Es dauerte nicht lange und wir waren im Schlafzimmer gelandet. Schon lange hatte ich nicht mehr so viel Freude am Sex. Und nach gut drei Stunden lagen wir leicht erschöpft aneinander gekuschelt und freuten uns an der Anwesenheit des Anderen. «Wow, Ritchie. Das hab ich ja nicht mal zu hoffen gewagt», fing Thomas wieder ein Gespräch an und ich erwiderte nur: «Geht mir genauso.» Sanft fuhr ich ihm über seine Brust und er genoss das sichtlich. «Sag mal Ritchie, was bist Du eigentlich für ein Jahrgang?» «Siebenundsiebzig, wieso?» Er warf seine Arme in die Höhe und rief aus: «Hurra, ich habe mit einem älteren Mann geschlafen.» Er kicherte in sich hinein und ich musste gleich nachfragen: «Passiert Dir das selten?» «Irgendwie schon. Bin achtziger Jahrgang und irgendwie haben die frühen Neunziger mich im Visier.» «Achtziger, also bin ich drei Jahre älter als Du», dachte ich laut nach: «Das macht kaum einen Unterschied.» «Ach Alter ist mir eh egal, aber ich bin von Natur aus neugierig – vielleicht ists auch nur eine deformation professionel.» «Ah der Herr kann auch französisch», ich machte eine extra lange Kunstpause, «sprechen.» «Ja kann der Herr», lachte Thomas, knuddelte mich durch und fragte dann: «Wollen wir aufstehen und noch was vom Wein geniessen und mehr voneinander erfahren?» «Gern doch.» Er kramte aus seinem Schrank eine kurze Trainingshose und ein T-Shirt hervor: «Hier probier das, ist vielleicht bequemer.» «Danke», murmelte ich und schlüpfte in die Sachen, die gut passten. «Lass uns auf den Balkon sitzen und das milde Wetter geniessen», schlug Thomas vor und ich folgte brav, nahm aber noch den Wein mit und setzte mich auf einen seiner bequemen Rattansessel. «Ah so lässt es sich aushalten, schönen Blick hast Du von hier.» «Ja, ich mag das sehr, so urban, und das Helenenviertel ist wunderbar mit seinen alten Häusern. Und bei den Nachbarn gibt’s immer wieder was Interessantes zu sehen.» «Ähnlich wie bei uns am Ostmarkt», bemerkte ich knapp. «Weissburg?» fragte ich: «Stammt Ihr aus der Ecke?» «In der Tat, alteingesessene Familie, unser Name kommt vom Ort. Ich bin aus der näheren Verwandtschaft der erste, der es aus der Provinz geschafft hat. Für meine Eltern hätte es nicht unbedingt Klaie sein müssen, aber mich hat Grossstadt schon als Kind fasziniert. Und ausser Klaie hats von Weissburg ja nicht viel Auswahl.» Er sah mich plötzlich wie ein Weihnachtsgeschenk an und fragte dann: «Und Du? Direkt aus Klaie?» «Ja hier geboren und aufgewachsen, in der Südstadt.» «Aus dem Loch?» «War es nicht immer, hat sich in der grossen Wirtschaftskrise noch gut gehalten, der Abstieg ging dann mit den Nullerjahren mit voller Wucht los. Meine Eltern wohnen noch immer in der alten Wohnung, Genossenschaft, das funktioniert bestens. Das, was heute darniederliegt, sind die Gebiete der ehemaligen städtischen Wohnbau und dort, wo nichts erneuert wurde, sondern billig an Migranten und Asylbewerber vermietet wurde.» «Du meinst diese Spekulationshäuser?» «Genau die, jahrzehntelang nichts gemacht. Und jetzt siehts halt aus, wie es aussieht. Ist schon bitter, war als Kind eine klasse Gegend und immer guter Zusammenhalt bei den Leuten. Aber die Alten sind rausgestorben oder ins Heim gewandert, den Jungen wars meist dann schon zu schäbig. Dass es noch ein paar Studenten-WGs hat, hat einiges gerettet. Tom und ich haben dort auch drei Jahre gelebt.» Er erhob sich von seinem Sessel und kam auf mich zu, setzte sich neben mich, nahm mich fest in den Arm «Ah ist das schön, hier mit Dir zu sitzen. Und so schön entspannt.» Er grinste über alle Backen und ich mit ihm: «Oh ja Thomas, mir geht’s grad richtig gut», ich küsste ihn sanft. Er nahm wieder auf seinem Sessel Platz und fragte: «Du und Tom?» «Ja, wir waren mal liiert.» Seine Augen wurden grösser. «Ernsthaft? Du wohnst mit Deinem Ex in einer WG?» Ich sah ihn etwas verdutzt an: «Warum nicht? Das ist erstens schon lange her und wir sind nicht im Streit auseinander. Wir haben uns an der Uni kennengelernt, wir waren beide im ersten Semester. Er als Theologe hat bei uns Kommunikationswissenschaftler ein paar Zusatzkurse gehabt, er war eher so ein Überstudent. Auf irgendeiner Uni-Party haben wir uns getroffen und sind ausserhalb der Kursräume ins Gespräch gekommen – und anschliessend im Bett gelandet. Keine zwei Wochen später haben wir dann eine kleine Wohnung in der Südstadt gefunden und sind zusammengezogen. Er hatte davor nur so ein Minizimmer im Wohnheim und ich war noch bei meinen Eltern. Das hat gut gepasst.» Thomas lauschte aufmerksam, seine Neugier war mit Händen zu greifen. «Wie lange wart Ihr zusammen?» «Drei Jahre. Völlig monogam. Das ist mir dann zu viel geworden, ich mein, ich war 23 und wollte mich einfach austoben. Für ihn wäre das wohl weiter gut gegangen. Wir haben dann noch einige Monate in der Wohnung nebeneinander her gelebt, bis mir dann Lou vorschlug, zu Ihr an den Ostmarkt zu ziehen. Sie hatte die grosse Wohnung von Ihren Grosseltern geerbt und konnte sie sich als Studentin unmöglich alleine leisten, obwohl nur Nebenkosten anfielen. So zog ich zu ihr, damals zusammen mit zwei ihrer besten Freundinnen, die heisse Ndbele und die dauerbekiffte Miriam.» Ich musste bei der Erinnerung an die beiden lachen: «Wir waren ein drolliges Quartett.» «Ndbele? Meinst Du Ndbele Kwanza?» «Ja die, kennst Du sie?» «Kennen wäre zu viel gesagt, aber ich hab mal eine Reportage über das hiesige Personal bei den Verkehrsbetrieben gemacht, so vor zwei Jahren, und da führt natürlich kein Weg an der Personalchefin vorbei. Ja stimmt, das ist ein heisser Feger – wenn man darauf stünde.» Er lachte auf und ich grinste mit ihm. «Aber dass sie lesbisch ist, dass kam damals gar nicht zur Sprache.» «Nun, vielleicht hat sie es vergessen», ich grinste und sah Thomas fragenden Blick. «Die ist so monogam wie ein Pflasterstein», fuhr ich fort: «Sie war damals bereits mit ihrer Freundin zusammen und sie sind es noch, einer asiatischen Performancekünstlerin, die hier nach Klaie kam, als sie noch Balletttänzerin war und hier ein Engagement bekam. Mia nennt sie sich wohl, weil ihr echter Name irgendwie unaussprechlich ist» «Ach so, Ndbele hätte aber trotzdem mal was sagen können.» «Hast Du ihr denn gesagt, dass Du ein schwuler Reporter bist?» «Hmmm, nicht wirklich, ich dachte, das sähe man mir an.» «Woran bitte?» fragte ich. «Halt so», war seine knappe Antwort. «Aber sie hat dennoch bei Euch in der WG gewohnt?» «Nun, das war eher Pragmatismus. Sie wussten nicht, ob die eine über das Engagement hinaus in Klaie würde bleiben können, und Ndbele wollte unbedingt Karriere machen, wo war ihr eigentlich egal. Da bot sich das an. Zwei Jahre später sind sie dann aber zusammengezogen, haben sich auf dem Dübschen ein Häuschen mit grossem Garten leisten können, in dem Mia sowohl gärtnert als auch manch ihrer Performances veranstaltet. Ndbele war da schon bei der Stadt angestellt und Mia hat eine Daueraufenthaltsgenehmigung bekommen.» «Sonst kannst Du Dir sicher auch nichts auf dem Dübschen leisten», warf Thomas ein. «Das war erstaunlicherweise ein Schnäppchen, hoher Renovierungsbedarf und der Garten war total verwildert. Ich hab damals sogar ein paar Wochenenden mitgeholfen, da aufzuräumen.» «Wie selbstlos.» «Nicht wirklich», ich grinste Thomas an: «Da hat auch ein echter Gärtner mitgeholfen, ein Jugendfreund von Ndebele, auf den hatte ich ein Auge geworfen. Und er hat mir meinen Einsatz mehr als üppig gedankt.» Thomas gab mir einen sanften Faustkick auf meine linke Schulter. «Du bist mir ein sauberes Früchtchen.» «Ich hatte damals gehofft, er könnte in die WG einziehen, aber noch bevor ich die Idee mit Lou besprechen konnte, hatte er schon einen anderen und war», ich legte einen spöttischen Ton ein, «`total verliebt`. Nun ja, ich glaub das ging dann doch immerhin drei Monate.» Thomas goss nochmal Wein nach und ich sagte zu ihm: «Aber ich erzähl und erzähl, was ist denn mit Dir, was gibt’s über Dich zu wissen?» «Nun, das ist schnell erzählt. Drittes von vier Kindern, geboren und aufgewachsen in Weissburg, liebevolle Eltern, bis rauskam, dass ich schwul bin. Dann nach der Hochschulreife sofortige Flucht nach Klaie, Journalismus studiert. Finanziert von einem kleinen Stipendium, das ich mir als Schülerzeitungsredakteur geangelt hatte, und diversen Nebenjobs vom Pizzakurier, Hundewäscher bis zum Parkplatzwächter.» «Das ist ja mal eine Kombination.» «Lach nicht Ritchie, für meinen Beruf war das sehr nützlich, ich bin mit so viel unterschiedlichen Menschen zusammen gekommen, manchmal kann ich die Kontakte sogar heute noch gebrauchen.» «Und wie bist Du dann so ein hochprämierter Journalist geworden?» «Ah, Dir sind meine Trophäen im Wohnzimmer aufgefallen? Ich weiss, das ist eitel, die so auszustellen, aber für mich ist es immer ein Ansporn. Ehrlich gesagt, da war auch viel Zufall im Spiel. Hab zur richtigen Zeit die richtigen Themen gewählt. `Muslimisches Leben in Klaie`, `Mangelnde Frauenförderung in der Stadtverwaltung`, das war, als ich Ndbele kennen gelernt habe und zuletzt die Wirren um die Gaffer-Group. Auch schon zwei Jahre her. Dafür gabs zwar nochmals einen Preis, aber keiner meiner Artikel ist je so totgeschwiegen worden wie dieser.» «Wie kommt das?» «Nun, das war wohl der falsche Zeitpunkt. Ich glaube aber, dass da seine Frau dahintersteckt, ihr ist das eher unangenehm, dass sie den Alten weniger geheiratet denn aufgekauft hat und ihm nun nur sein Altenteil bei der Bauabteilung lässt.» Ich staunte Bauklötze: «Das haben meine zwei Mitbewohner auch gerade erzählt. Das ist also kein Insiderwissen der Antifa?» «Ach Tom und Stefan haben Dich über die Antifa eingeweiht?» Mir fiel fast mein Weinglas aus der Hand. Was ging da nun vor? Thomas sah offenbar meinen erstaunten Blick: «Ganz ruhig Ritchie. Ich erklärs Dir gleich, aber das nur vornweg geklärt, ich mag Dich wirklich und ich möchte gern noch öfters mit Dir solche Sonntage erleben. Das mit Tom und Stefan ist – scheint heute mein Lieblingsbegriff zu werden – echt ein Zufall.» «Ja nun aber raus, wie steckt Ihr drei da unter einer Decke?» «Ich fang von vorne an», Thomas nahm noch einen grossen Schluck: «Ach warte noch». Er ging in die Wohnung und kam kurz darauf mit einem wunderbar gedrehten Joint daher. «Ich glaub, der passt jetzt gut. Also: ich war ungefähr ein halbes Jahr in Klaie, da ging ich mit einem Aufriss aus der `Boys-Bar` raus und Richtung Bahnhofspark. Das war noch die Zeit, als Darkrooms in Klaie verboten waren und in meine Bude wollte ich – noch – keine Männer mitnehmen. Also hoffte ich auf Entspannung mit dem Kerl aus der Bar im Park. Doch kurz bevor wir dort waren, kamen drei Jugendliche auf uns zu und haben uns derbe vermöbelt.» «Scheisse», rutschte es mir da nur raus und ich nahm einen kräftigen Zug. «Die hiesige Polizei konntest Du zu der Zeit völlig vergessen, bei denen wurdest Du schnell erneut Opfer. Also wenigstens ins Krankenhaus und schauen, ob nicht was Schlimmeres passiert ist. Denen haben wir was erzählt von wegen `übler Treppensturz`. Wir waren aber nicht die einzigen an dem Abend. Mit uns sassen noch vier Schwule in der Notaufnahme. Mit denen kamen wir ins Gespräch und tauschten uns über Hilfemöglichkeiten aus. Die Schwulengruppen, damals war das noch `KURS` und die `Rosa Bande`, galten als viel zu ohnmächtig, da brachte der eine die Antifa ins Gespräch. Er hätte da noch Kontakte und er gab mir eine Telefonnummer von einem gewissen Stefan, ich sollte ihm sagen, dass der Adrian mir die Nummer gegeben habe.» Ich war völlig im Bann seiner Erzählung und in meinem Hirn ratterten Erinnerungen aus dieser Zeit an mir vorbei. Die frühen Nullerjahre waren echt übel. «Ich hab drei Tage gebraucht, bis ich den Mut fand, Stefan anzurufen. Was aber ein Riesenglück war. Der war zwar wortkarg bis sonst wohin, aber er hat sich mit mir getroffen und mich einfach reden lassen. Und er versprach mir, dass er und seine Freunde sich darum kümmern werden. Und was soll ich Dir sagen, drei Wochen später lagen die Angreifer mit gebrochenen Beinen im Spital und legten bei der Polizei ein Geständnis ab. Da aber keine Strafanzeige gestellt worden war, verlief das Ganze später im Sand.» «Wieder mal typisch.» «Kannst Du sagen, na heute ists ja doch erheblich besser. Aber um zurück zu kommen, seither kennen Stefan und ich uns. Er und seine Antifa-Freunde helfen mir ab und zu bei Recherchen und ich geb auch bei Bedarf Infos an sie weiter. Und helfe manchmal mit meinem Recherchewissen. Irgendwann haben es Stefan und ich auch mal miteinander versucht, aber das klappte so gar nicht.» Er schmunzelte vor sich hin. «Woran lags?» Thomas überlegte einen Moment, dann nahm er mich wieder in den Arm. «Er ist einfach nicht wie Du.» Er lachte, liess mich wieder los und sagte dann: «Na erstmal seine Wortkargheit, ich brauch was Gesprächigeres. Dann seine Hobbies – ausser Sport und Antifa ist da nicht viel. Unsere Gespräche über Kultur und ferne Länder waren meist recht kurz. Und ich hatte auch noch nie eine Beziehung, war da wohl auch nicht der ideale Partner für ihn. Hat mich dann auch gefreut, als er Tom fand. Die zwei passen gut zusammen. Und mit Tom haben sich dann auch meine Kontakte zur Antifa intensiviert, er ist ja mehr der Intellektuelle und kann super gut recherchieren. Mein Gaffer Artikel wäre ohne ihn sicher nicht preiswürdig geworden.» Ich nickte zustimmend. «Ja das ist Tom. Und man kann sich 100% auf ihn verlassen, ich glaub, das ist auch ein Grund, warum sich unsere Freundschaft bis heute hält. Er macht zwar manchmal eine Unterhaltung zur Geschichtsstunde, aber es ist immer informativ.» Ich machte eine Weinpause und dann sah ich Thomas an und fragte: «Aber Du und Stefan? Ich weiss bei dem ehrlich nicht, auf was für Männer er so steht. Ich kenne zwar ein paar seiner Ex-Männer, aber da lässt sich kein Schema erkennen.» Thomas lachte mich breit an, dann zeigte er mit seinen Fingern auf seine Augen: «Doch, ein Schema hat er.» Ich sah ihn verdutzt an. «Und das wäre?» Jetzt nahm er von jeder Hand den Zeigefinger und führte sie auf seine Augen, doch ich verstand immer noch nicht. «Die Augen mein Lieber, Stefan fickt nur blauäugige Männer.» Ich antwortete nicht sofort, sondern stellte mir die mir bekannten Männer von Stefan vor, hatten die wirklich alle blaue Augen? Hmmm, mir fiel zumindest keiner bewusst mit einer anderen Augenfarbe ein. Thomas nutzte die Stille und erzählte: «Als er zu Tom in die WG gezogen ist, hat er mir mal gestanden, dass da ein ziemlich süsser Kerl wohnen würde und dass er den sofort vernaschen würde – Tom hin oder her – wenn der nicht braune Augen hätte. Damit hat er wohl Dich gemeint.» Jetzt zeigten seine Zeigefinger auf mich und ich merkte, dass mir das Blut in die Wangen schoss. Ich nahm zur Kühlung noch einen Schluck Wein und reagierte dann doch ungewohnt offen: «Na, ist nicht immer leicht, mit so einem scharfen Kerl die Wohnung zu teilen, das muss ich zugeben. Aber davon ab, jetzt versteh ich besser, warum er auch nur jeden Annäherungsversuch abgeblockt hat. Ich dachte immer, das sei wegen der Monogamiererei, die er und Tom gerne zelebrieren.» «Monogamiererei?» Thomas lachte laut auf. «Was ist das denn für eine Wortschöpfung?» «Meine eigene», ich grinste ihn an: «Ich finde dieses Treuegetue halt einfach überholt. Ich hoffe, ich sinke damit nicht in deiner Achtung?» Ich sah ihn neugierig an. «Ach wo. Wie gesagt, ich hatte noch nie eine lange Beziehung und ich suche auch nicht bewusst danach. Aber ich verbringe gerne Zeit mit einem Kerl, bei dem ich mich wohlfühle. Mehr verlange ich nicht, ausser, dass ich mich wohlfühle.» Nach einer kurzen Pause ergänzte er: «Und er sich bei mir wohlfühlt. Versteht sich.» Wir prosteten uns zu: «Aufs Wohlfühlen», hauchte ich ihm dabei zu. Wir sassen dann noch eine gute Weile auf dem Balkon und Thomas erzählte mir noch aus seinem Leben, seinen Auslandsaufenthalten, seiner journalistischen Arbeit, seinen Kerlen, seinen zwei Brüdern und der einen Schwester, seinen Zukunftsplänen, was man halt an einem schönen Tag mit Wein und Joint so erzählt. Mir war einfach nur wohl, das Leben fühlte sich so echt, so wertvoll und genussreich an, so durfte es gerne bleiben.

Mit beginnender Dämmerung zogen auf einmal dunkle Wolken am Horizont auf und der Wind wurde deutlich frischer. Ich beschloss mich auf den Weg zu machen, so schwer es mir auch fiel, aber ich wollte nicht bei Gewitter mit dem Rad unterwegs sein. Thomas zeigte Verständnis und nach einer innigen Verabschiedung radelte ich los und kam gerade noch trocken an, als die Haustür zufiel, hörte ich den ersten Donner und noch ehe ich in der Wohnung war, brach der Regen los und ein typisches Sommergewitter zog über Klaie.

Dafür war es in der Wohnung umso friedlicher. Lou und Tom lagen auf dem Sofa und schauten sich einen Dokumentarfilm über den Klimawandel an und Stefan hörte ich an seinem Rudergerät keuchen. Ich nahm mir ein Glas und Wein, den die beiden Ferngucker geöffnet hatten und setzte mich ebenfalls vor den Fernseher. Kurz danach wurde die Doku durch ein Werbefenster unterbrochen und Lou nutzte das zu einem kleinen Verhör: «Na Ritchie, Du strahlst ja über alle Backen. Angenehme Stunden mit Thomas gehabt?» «Jaaaaa. Und wieeeee.» «Thomas ist wahrlich ein guter Typ», brachte sich auch Tom ins Gespräch. «Ja hab ich erfahren, auch dass und wieso Ihr Euch kennt.» «Gut, dass es so rauskam, wir waren uns alle nicht so sicher, wie und ob wir das sagen sollen oder können.» «Schwamm drüber. Ich bin auf alle Fälle megaglücklich gerade und wohlig befriedigt.» Ich schmunzelte und Lou sah nicht so aus, als wäre sie schon zufrieden. «Und was ist das so für einer, der Thomas?» «Wie was für einer soll er sein? Ein grandioser Liebhaber, ein ausgezeichneter Journalist und ein angenehmer Gesprächspartner. So einer ist der.» Lou lachte auf, «Na es geht doch, wenn ich nur lang genug frag. Dann werdet Ihr Euch also wiedersehen?» «Ja unbedingt. Ach Lou, er kennt übrigens Ndbele». Lou sah mich ganz fest an: «Wie kommt Ihr denn auf Ndbele zu sprechen?» «Na wir haben aus unserer Vergangenheit erzählt und ich vom Entstehen unserer WG, und beim Stichwort Ndbele hat er mir gesagt, dass er sie von seinem prämierten Artikel über das Personal bei der Stadt oder so kennt.» «Ach so. Hattet Ihr keine spannenderen Themen?» Lou grinste mich an. «Auch, aber nicht nur. Da fällt mir ein, was ist eigentlich aus der bekifften Miriam geworden?» «Mein letzter Stand ist, dass sie in einer Kommune in der Südstadt lebt, Taxi fährt und sich immer noch nicht entscheiden mag, ob sie mit Männern oder Frauen schlafen soll.» Der Dokufilm ging weiter und ich wünschte meinen Beiden eine gute Nacht, so allmählich spürte ich den Tag und ich wollte die Woche halbwegs frisch beginnen. Ich schaute noch kurz beim trainierenden Stefan vorbei und sagte auch ihm gute Nacht und nach einem kurzen Reinigungsprogramm legte ich mich zufrieden und selig ins Bett und schlief rasch ein.

 

 

 

5 Arbeit

 

Mein Wecker ging am nächsten Morgen bereits um sieben Uhr, da ich bereits um acht im Büro sein wollte. Am Wochenende gabs immer viele Veranstaltungen unserer Mitgliedsvereine und -clubs und wenn die organisierte queere Gemeinde zusammensass, blieb es selten aus, dass sie wieder mit Vorschlägen und Ideen auftauchten. Auf dem Weg zur Küche begegnete mir gerade noch Lou, die bereits parat für den Arbeitstag war, sie gab mir noch einen Wangenkuss für den Tag und war schon verschwunden. Tom sollte um diese Zeit bereits aus dem Haus sein und Stefan hörte ich noch im Bad hantieren. Auch ich machte mich rasch parat und entschied mich für die Strassenbahn, zum einen sah es nicht aus, als ob es den ganzen Tag stabil trocken bleiben würde und da ich am Wochenende keinen Blick auf meine verschiedenen Nachrichtensysteme geworfen hatte, konnte ich vielleicht das eine oder andere noch bereits vor dem Büro abarbeiten. Natascha, meine Mitarbeiterin und die eigentliche Büroleiterin, hatte mich wohl am Sonntag zweimal versucht anzurufen, aber da wir vereinbart hatten, dass sie in dringenden Fällen eine SMS schicken sollte, waren es solche eben nicht. Auf unserer Homepage jede Menge Bilder von glücklichen und feiernden Queers in Klaie, Sommerzeit war Partyzeit und das wurde ausführlich auch im Netz zelebriert und dokumentiert.

Als ich unsere Geschäftsstelle am Rande der Innenstadt betrat, sass Natascha gerade am Telefon und sie redete mit sehr nachdrücklicher und ungewohnt scharfer Stimme: «Ja Herr Koller, fünf Angriffe. Ja, alle zur gleichen Zeit, um 1 Uhr nachts, an fünf verschiedenen Orten in Klaie, ja, alles Gäste der Sommerparty des Vereins Queer Sports.» Stille. «Nein Herr Koller, nicht alle Opfer möchten Anzeige erstatten, da einige schlechte Erfahrungen mit Ihnen gemacht haben und Angst vor der Öffentlichkeit haben. Ich melde das im Auftrag unseres Gewaltprojektes, wir stehen natürlich mit den Opfern in engem Kontakt und haben unsere Psychologen aufgeboten. Sie kennen ja die Vereinbarung.» Wieder Stille. «Nein Herr Koller, wir werden nicht versuchen, die Opfer umzustimmen.» Natascha trommelte nervös auf dem Schreibtisch herum und deutete mir an, dass ich zuhören sollte, sie schaltete den Lautsprecher an. «Verstehen Sie doch unsere Lage, Frau Kaminskaja, wir können keine genauen Ermittlungen durchführen ohne Zeugenaussagen…» «Herr Koller», unterbrach Natascha ihn nun recht unwirsch: «Wir haben alle notwendigen Aussagen und Hinweise sauber dokumentiert und Ihnen und Ihren Kolleginnen heute Morgen bereits zugemailt. Ausserdem haben zwei Opfer, die gemeinsam attackiert wurden, bereits in der Nacht auf Sonntag Ihre Kolleginnen gerufen und Anzeige erstattet, Sie sollten also alle Unterlagen haben.» «Okay, okay, Frau Kaminskaja, ich schau, was wir tun können und melde mich dann wieder, angenehmen Tag noch.» «Danke, aber das wird angesichts der Lage schwierig», verabschiedete sich Natascha. «Morgen Ritchie, schöne Scheisse. Fünf Angriffe gabs Samstag auf Sonntag, zeitgleich. Das war eine regelrechte Aktion.» Natascha schnaufte und sah mich mitgenommen an. «Ach herrjeh, geht das wieder los.» Ich machte eine kurze Pause und fragte dann etwas zögerlich: «Wissen wir in etwa, welche Art Täter wir haben könnten?» Ich versuchte, mich so vorsichtig wie möglich auszudrücken. «Nix Muselmann, nix Asylheinis – so viel steht fest», fasste Natascha zusammen. Ich warf ihr ob der Wortwahl ein kleines Kopfschütteln zu, das sie mit einem Schulterzucken quittierte. Aber im Grunde war ich froh über die Kürze und erleichtert, dass aus diesen Gruppen die Gewalt nicht kam. «Soweit wir das überblicken und was die vom Gewalttelefon sagen, waren das fünf Dreiertrupps von jungen Männern, so um die 20 und alle hatten offenbar einen merkwürdigen Akzent, sofern da in dem Gemenge und Gejohle etwas klar zu verstehen war.» «Gejohle?» «Ja, alle Opfer haben berichtet, dass sie sowas wie einen Schlachtruf hatten, als sie auf sie losgingen, klang nach `Nieder mit dem Arschfickerpack, haut den Schwuchteln die Eier nieder`». Mir kam bei merkwürdiger Akzent ein übler Verdacht. «Sag mal Natascha, könnte das geklungen haben wie `Niedör mit döm Arschfickörpack, haut dön Schwuchtöln die Eiör niedör?`» Ich versuchte Stefans Akzent so gut es ging nachzuahmen, doch Natascha sah mich nur verwirrt an. «Was ist das denn für ein Akzent?» «Nieder-Bergen», antwortete ich: «Ich kenn den Akzent, bei mir in der WG wohnt einer von dort.» «Du meinst, da kommen welche aus Nieder-Bergen und hauen unsere Leute?» «Auszuschliessen ist heutzutage nichts mehr», antwortete ich knapp. «Aber lass mich mal noch etwas recherchieren, wer war denn am Gewalttelefon?» Natascha blätterte kurz in ihren Unterlagen und sagte dann: «Mike, von den schwulen Schwimmern, Tamara von den Draggies und Konstantin von der Gay Church.» «Machen die neuerdings auch mit?» fragte ich. «Nein, nicht offiziell, nur Konstantin, er ist letztes Jahr selber angegriffen worden und macht das eher als Privatperson.» «Okay, ich werde die nachher mal anrufen. Gibt’s Hinweise, dass noch mehr passiert ist, vielleicht kennen ja nicht alle unser Telefon?» «Das ist das, was unsere Telefonistinnen auch befürchten, das war vielleicht nur die Spitze des Eisberges. Manche trauen sich ja nicht mal mit den eigenen Leuten zu sprechen.» In dem Moment klingelte prompt das Telefon, Natascha nahm ab und ich hörte das Mike dran war. Ich liess mir das Telefon reichen und fragte: «Na Mike, gibt’s noch mehr zu berichten?». «Je nachdem. Ich habe noch fünf der Opfer angerufen, wegen des Akzents.» «Echt? Super! Natascha und ich haben gerade spekuliert, ob das Nieder-Bergener Akzent war.» «Richtig spekuliert, einer der Opfer kann das eindeutig zuordnen, hat wohl Verwandtschaft dort sitzen. Zwei andere konnten das ein wenig imitieren und es klang ähnlich.» «Mist», schimpfte ich. «Was Mist?» fragte Mike. «Na Mist, weil das heisst, dass offenbar jetzt Trupps von dort Klaie unsicher machen.» «Sehe ich auch so. Habt Ihr mit der Polizei gesprochen? Tun die was?» «Natascha hatte gerade Herrn Oberbullen persönlich dran, den Koller. Ich habs nur nebenbei mitgehört, er scheint nicht gerade vor Aktivität zu sprühen. Natascha hat aber alles offiziell dokumentiert und denen geschickt. Und zwei haben wohl noch in der Nacht Anzeige erstattet, die Mühlen sollten also zu mahlen beginnen.» «Na immerhin. Du Ritchie, ich muss los, die Arbeit ruft. Wenn es was Wichtiges gibt oder Du mich als Zeugen brauchst, ruf mich abends an, ich bin heute dauernd in Meetings und kann mich da schwer loseisen.» «Mach ich, Natascha oder ich halten Dich auf jeden Fall auf dem Laufenden. Und Danke für Dein Engagement und Deinen Einsatz.» «Ist schon okay. Danke fürs Danken.»

Ich legte auf und sah Natascha an und sie mich. «Nieder-Bergen also?» «Ja», sagte ich: «Ein Opfer ist sich da sehr sicher.» Nach einer kurzen Pause dann: «Natascha, ich werde mal noch bei Mischa von den Queeren Juden anrufen, vielleicht wissen die noch was mehr, bei denen brennt ja meist zuerst die Hütte.» «Sei nicht so zynisch», entgegnete mir Natascha, fügte dann aber ganz Profi hinzu: «Ich bewache derweil das Telefon und trage mal zusammen, was wir bislang an Fakten haben, da muss doch ein Artikel auf unsere Homepage. Meinst, wir sollten da auch gleich eine Warnung posten?» «Hmmm, lass den Tag noch etwas älter werden, ich möchte am Nachmittag sicher nochmal den Koller sprechen, dann können wir das mit der Warnung entscheiden. Aber das mit dem Artikel ist eine klasse Idee, Danke und gutes Gelingen.»

Ich startete nun meinen eigenen Rechner und checkte erstmal die offiziellen Mails des Vereins, aber nichts Aussergewöhnliches dabei. Dann nahm ich mein Telefon und rief Mischa an. «Schalömchen Ritchie», begrüsste dieser mich mit seiner fröhlichen Stimme. «Was verschafft mir die Ehre, dass der oberste Schwule der Stadt mich schon am Montagmorgen anruft?» Ich sah ihn vor meinem geistigen Auge breit grinsen, diesen zwei Meter Lulatsch mit dem sympathischen Bäuchlein und den strahlenden blauen Augen. «Schalömchen Mischa», ahmte ich ihn nach: «Leider nix Gutes. Aber erstmal, wie geht’s Dir denn?» «Danke gut, aber nun raus mit der Sprache, was liegt an?» «Es hat fünf Gewaltdelikte am Wochenende gegeben. Offenbar eine geplante Aktion.» «Wie? Organisierte Banden?» «Steht zu befürchten, so genau wissen wir es noch nicht, aber es kommt noch dicker, die kamen in Dreiertrupps, also mindestens fünfzehn Typen, und der Hammer, wohl aus Nieder-Bergen.» «Nieder-Bergen?» fragte Mischa und er zog die Laute extrem in die Länge, seine ganze Fröhlichkeit war weg. «Ja, Nieder-Bergen», wiederholte ich. «Nein, nein, nein, nicht schon wieder», tönte es vom anderen Ende und ich konnte ihn schwer atmen hören. «Mischa, was ist los?» «Ach dieses Dreckskaff lässt mich nicht los.» Er machte eine Pause und ich wartete geduldig bis er sich wieder gefasst hatte. «Na dann waren die das wohl auch, die uns die Eingangstür der Synagoge versprayt haben. Ist dieses Jahr schon das fünfte Mal und ich hab mir nichts weiter gedacht. Niiiiieeeeeedeeeeerrr-Beeeeergen. Ich fass es nicht.» «Euch haben sie die Tür versprayt?» fragte ich nach. «Ja, `Juda verrecke`. Nix neues, ausser, dass da wohl ein Analphabet am Werk war, verrecke mit Umlaut ä und zwei g geschrieben. Das würd gut zu diesen Vollidioten von dort passen.» Er klang mächtig wütend und ich traute mich kaum nachzufragen, riss mich dann aber zusammen: «Mischa, Du und Nieder-Bergen? Was ist das für eine Geschichte?» Er machte eine längere Pause und ich merkte, wie er seine Gedanken sortierte: «Okay Ritchie, weil es Du bist. Ich machs aber ganz kurz, das wühlt mich immer auf. Ich hab die ersten sechs Jahre dort gelebt, bis in meinem Kindergarten eine Bombe hochging, nur dank des beherzten Eingreifens des Mannes meiner Kindergärtnerin», ich merkte wie sein Stimme immer brüchiger wurde und ihm wohl die Tränen liefen, jetzt schluchzte er deutlich hörbar: «Leb ich noch.» Mich ergriff ein ziemlicher Schauer, soviel Zufall konnte es doch nicht geben: «1982?» fragte ich knapp. Ziemlich irritiert kam von ihm die Gegenfrage: «Ja, woher weisst Du?» «Ich glaub das jetzt kaum», begann ich meine Antwort: «Ich hab von der Geschichte vor zwei Tagen zum ersten Mal gehört.» «Du hast von der Geschichte gehört?» «Ja Mischa, ich bin grad selbst ziemlich verwirrt. Mein Mitbewohner ist offenbar der Sohn Deines Retters.» Ich liess ihm Zeit, die Neuigkeit zu verdauen. Nach einer guten Weile hörte ich ihn ganz leise: «Der Sohn meines Retters? In deiner Wohnung? Weisst Du – ich trau mich kaum zu fragen, weisst Du, ob seine Eltern noch leben?» «Ja Mischa, die leben beide noch, die haben gerade am Samstag ihren Hochzeitstag gefeiert. Hier in Klaie.» Jetzt hörte ich nur noch Schluchzen und Weinen und sowas wie: «Oh Gott oh Gott.» Dann brach die Verbindung ab. Ich blieb erstmal einen Moment regungslos sitzen und starrte vor mich hin, das konnte doch nicht wirklich wahr sein. Nach fast zehn Minuten klingelte mein Telefon und ich sah, dass Mischa auf der anderen Seite dran war: «Hallo Mischa, geht’s wieder?» Mischas Stimme kam wieder gefestigter daher: «Ja Ritchie, sorry, aber das kam ziemlich überraschend. Ich konnte mich damals nicht mal bedanken. Als ich nach Monaten aus dem Krankenhaus kam, war er nämlich unbekannt verzogen. Ich hab noch eine Weile nach ihm gesucht, aber damals, so ohne Internet, mit der hiesigen Polizei und überhaupt. Und wir sind dann ja auch weggezogen, da wars mit der Suche schwer. Und sie sind jetzt auch in Klaie?» «Ja Mischa, so wie es Stefan, das ist der Sohn, erzählt hat, ist die Familie noch am nächsten Morgen nach dem Anschlag aus Nieder-Bergen weggezogen und hier bei einer Tante in Klaie untergekommen. Da hats offenbar bereits am Abend Morddrohungen gegeben.» «Was? Morddrohungen? Das war doch ein Held?» «Ja, aber offenbar wäre es einigen dort lieber gewesen, es hätte einen Juden weniger gegeben.» Natascha sah mich unvermittelt sehr böse an und Mischa rang erneut mit seiner Stimme: «Und ich dachte, die wären wegen ihr weg, dass sie an so einem Ort nicht mehr Kindergärtnerin hat sein wollen. Verfluchte Scheisse, verfluchtes Nieder-Bergen», rief er aus. Um hier das Ganze ein wenig zu drehen sagte ich zu ihm: «Mischa, ich geb Dir mal Stefans Telefonnummer, vielleicht fragst Du ihn besser zuerst, ob sein Vater mit der alten Geschichte noch was zu tun haben will. Aber so wie ich den Vater kenne, wird er sich sicher freuen.» «Oh das ist lieb Ritchie, das mach ich gerne, Mann, was für ein Tag.» «Kannst Du laut sagen.» Natascha winkte mir und ich sagte zu Mischa: «Bleib mal bitte dran, meine Kollegin will gerade was. Ja Natascha, was ist?» «Hab ich das richtig gehört? In der Tatnacht ist auch wieder die Synagogentür versprayt worden?» Ich nickte. «Frag Mischa, ob ich das in dem Artikel erwähnen soll. Vielleicht hat er ja sogar ein Foto?» «Hast Du Natascha gehört, Mischa?» fragte ich und er antwortete: «Ja hab ich. Ich mail ihr gleich ein paar Bilder, hab das wie üblich sauber dokumentiert. Leider dürfen wir ja die Synagoge nicht videoüberwachen, sonst hätten wir die Täter auch gesehen.» «Ihr dürft nicht?» «Naja, nicht dürfen ist etwas ungenau. Einige Gemeindemitglieder möchten das nicht und auch unser Rabbiner findet das einen Eingriff in die Privatsphäre, man weiss ja nicht, was mit den Aufnahmen womöglich passiert.» «Ach sind das mistige Zeiten», entgegnete ich mit wütender Stimme: «Aber dann ist das okay, dass wir das mit Eurer Tür veröffentlichen?» «Ja das ist absolut okay. Habt Ihr die Vorfälle auch beim Koller gemeldet?» «Ja, der Herr Chef macht das zu seiner eigenen Sache.» «Wie bei uns», sagte Mischa: «Aber mir wärs lieber, ein Fähiger würde sich drum kümmern, bisher sind alle Vorfälle ungeklärt geblieben.» «Vielleicht gehe ich doch mal wieder aufs Rathaus zu», sagte ich: «Wenn sich das mit dem Verdacht in Richtung Nieder-Bergen bestätigt, wird es eh politisch werden. Und Du und Deine Leute seid ja auch zahlendes Mitglied bei Klaqueur, da packen wir mal die homophobe Kacke mit der antisemitischen zusammen.» Mischa jaulte am anderen Ende auf: «Nicht meine Wortwahl, Ritchie, aber der Plan klingt gut. Ich hab notgedrungen gute Kontakte ins Ordnungsamt, vielleicht können wir das gemeinsam koordinieren?» «Klingt gut, ich werde mich sicher noch in dieser Woche dann wieder bei Dir melden. Jetzt geb ich Dir aber erstmal Stefans Nummer, nicht dass ich das noch vergesse.» Ich gab ihm die Nummer und wir verabschiedeten uns auf bald.

Den restlichen Vormittag telefonierte ich mich durch das queere Klaie und erreichte unerwartet viele der Vorsitzenden unserer Mitgliedervereine. Natascha half mir, nachdem sie ihren Artikel fertig hatte. Ausser ein wenig Klatsch und Tratsch gab es aber bezüglich der Gewaltdelikte vom Wochenende keine weiteren Informationen. Die meisten waren aber mächtig verärgert und zum Teil auch verängstigt, solche Zeiten dachten wir alle, hätten wir bereits hinter uns gelassen. Es versprachen aber alle, ihre Mitglieder zu informieren und vor Banden aus Nieder-Bergen zu warnen. Kurz nach zwölf rief ich Stefan an und informierte ihn über Mischa und dass dieser sich bei ihm melden würde. Wie gewohnt einsilbig nahm er die Info entgegen und versprach mit seinem Vater zu reden, er sei sich aber sicher, dass sich beide Eltern freuen würden, sie haben sich ja immer wieder gefragt, was aus dem Buben geworden sei. Nach diesem kurzen Anruf ging ich mit Natascha Mittag essen, die dritte Ausgabe der `Klaie Street Food Days` war gerade am Laufen und die Innenstadt prallvoll mit Essenswagen und dementsprechend Publikum. Natascha fand auch einen veganen Wagen, während ich mich aufgrund der Temperaturen und angesichts des Bauchansatzes für frischen Salat entschied, wäre nicht noch Speck dabei gewesen, wäre er auch vegan geworden.

«Hast Du irgendetwas Wertvolles oder zumindest netten Klatsch bei Deinen Anrufen gehört?» fragte ich Natascha. «Nicht wirklich. Die waren alle ziemlich betroffen und darum eher wortkarg und besorgt. Zum Klatsch war ich aber auch nicht aufgelegt. Aber einige haben sich noch bedankt für Deine Grabrede von Miss Diva letzten Monat. Da hast Du offenbar eine Sternstunde gehabt.» Sie lächelte mich fies an. «Danke, ja wurde vorhin auch noch darauf angesprochen. Mir ist eigentlich wichtiger gewesen, dass der Klaiener Bote unserer Drag Queen-Pionierin noch ein Porträt gewidmet hat. Schade, dass sie dafür erst sterben musste.» Natascha sah mich entgeistert an, nahm aber den Faden nicht mehr auf, sondern sagte: «Eins ist vielleicht noch wichtig, der Chor `Klaie singt queer` wird seinen Proberaum verlieren, gehört zu einem der Abrissgebäude in der Südstadt.» «Doch nicht die Grundschule am Amselweg?» «Doch, wieso?» «Na das war meine Grundschule. Wird wohl auch diese Erinnerung wegspekuliert.» «Na wenn Du sonst keine Sorgen hast, Ritchie», nahm Natascha meine Kindheitserinnerungen entgegen. Wir liefen wieder zurück zu unserer Geschäftsstelle und freuten uns, ob der vielen wenig Bekleideten Menschen in der Stadt, sie ob der weiblichen, ich ob der männlichen. Sogar einige Bekannte grüssten aus der Ferne winkend.

Danach ging der Telefonmarathon weiter. Mit unseren 42 Mitgliedsvereinen dauerte sowas schon. Um zwei dann noch das Telefonat mit dem Polizeipräsidenten, der aber nichts Neues zu melden hatte, dafür wenigstens sein Okay für eine Warnung an unsere Community wegen der Überfälle gab. Meine Info, dass die Täter wohl aus Nieder-Bergen stammen, nahm er wenig interessiert zur Kenntnis. Natascha machte sich daraufhin sofort ans Werk und veröffentliche Artikel und Warnung auf unserer Homepage und gab einen Extranewsletter raus. Auch das Bild mit der versprayten Synagogentür schickte sie auf die entsprechenden Kanäle mit der Bitte um Zeugenhinweise.

Gegen vier eine willkommene Abwechslung. Thomas rief mitten in einer kurzen Kaffeepause an und lud mich für den nächsten Abend zu Pasta, Wein und Körperkontakt ein. Das hellte meine Stimmung deutlich auf und die restliche Zeit bis halb sieben und dem letzten Telefonat verging umso schneller.

 

 

 

6 Beischlaf

 

In der Strassenbahn nach Hause merkte ich den Sommer, jetzt war wieder Fahrradzeit und damit die Wagen schön leer. Zu Hause angekommen, keine Mohrle mit ihrem Ritual, das liess auf besonderen Besuch schliessen. Und in der Tat, als ich die Küche betrat, sass Lou mit grossem Ginglas am Tisch und ihr Gegenüber Ndebele mit ebensolchem Glas und Mohrle glückselig auf ihrem Schoss. Das verhiess aber nichts Gutes. «Guten Abend die Damen», versuchte ich möglichst unbeeindruckt zu wirken. Beide hoben nur kurz die Hand zum Gruss. «Ja Hallo Ndbele, welch Überraschung, lange nicht gesehen.» Ich umarmte sie und sie murmelte nur: «Hallo Ritchie, ja ist lange her.» Dann ging ich zu Lou, umarmte sie, gab ihr einen Wangenkuss und kam auf den Punkt: «Was ist hier los? Das sieht nach Problemen aus.» «Gut erkannt», zischte Lou und fügte gleich etwas versöhnlicher hinzu: «Sorry Ritchie, aber die Scheisse dampft nicht mal mehr, sie wird gratiniert.» Sie verzog nicht mal im Geringsten ihr Gesicht, das einfach nur kläglich aussah. «Ndebele magst Du?» fragte sie matt ihre Freundin und unsere ehemalige Mitbewohnerin. «Aber sicher», antwortete sie, setzte sich samt Mohrle ganz gerade auf und noch ehe ich ein Kompliment über ihr grossartiges Aussehen loswerden konnte, begann sie: «Lou hat heute ihre Chefin beim Vögeln mit dem alten Gaffer erwischt. In den Räumen des Amtes.» Es traf mich wie ein Blitz und ich musste mich erstmal setzen. «Hier, nimm einen Schluck», Lou reichte mir ihr Ginglas und ich nahm einen kräftigen. «Danke», murmelte ich danach und gab es ihr zurück. «Und? Haben die beiden Dich bemerkt?» fragte ich nach und Ndbele antwortete nachdem Lou nur müde abgewunken hatte und sich noch einen Schluck nahm. «Ja jetzt kommt das Komplizierte erst», setzte Ndbele die Ausführungen fort: «Die Baumann hat Lou förmlich reinen Tisch gemacht und sie in die Pflicht genommen – alles in einem. Kein Wort dürfe da an die Öffentlichkeit. Das ginge schon ein paar Jahre so. Sie habe das vor allem getan, wegen Insiderinfos und danach, weil sie nicht wüsste, ob sie nach den nächsten Wahlen noch ihr Amt behalten könne und so vielleicht bei der Gaffer-Group unterkommen müsse.» Ich war fasziniert von ihrem Zusammenfassen auf den Punkt. «Und der Gaffer? Was hat er bekommen?» «Ich hab sie gefragt», Lou war wieder redebereit: «Aber sie verdrehte nur die Augen und legte den Zeigefinger vor den Mund. Na ich kanns mir denken. Kein Wunder, dass die Gaffer-Group fast jede Ausschreibung gewonnen hat. Zumindest seit offenbar diese Affäre läuft. Und das sind so gerechnet dann wohl fünf Jahre.» Lou liess ihr Glas wuchtig auf dem Tisch landen. «Ich weiss bloss nicht, wie sie das gedreht hat. Offiziell ist sie an den Ausschreibungen nicht beteiligt und wir hatten vor zwei Jahren schon eine parlamentarische Untersuchung. Die haben nichts festgestellt.» «Ach Lou, sei nicht naiv», Ndbele übernahm wieder das Wort: «Nichts einfacher als das. Sie ist Departementsvorsteherin und kann zur Not auf alle Dokumente zugreifen», sie machte eine Pause: «Oder zugreifen lassen. Wer sitzt denn in der Ausschreibungskommission? Sicher der eine oder andere Parteifreund». «Ja klar», gab Lou von sich: «Aber das hiesse dann ja …» Sie beendete den Satz nicht, dafür übernahm dann ich: «Sie hat mindestens einen davon in der Hand.» Ndbele nickte und Lous Miene verdüsterte sich noch mehr. «Scheisse», schrie Lou so laut, dass Mohrle erschreckt Ndbeles Schoss verliess und davonrannte.

In diesem Moment ging die Wohnungstür und Toms Stimme rief ein «Hallo» in die Wohnung: «Mit Mohrle alles klar?» «Ja, wir haben sie nur gerade erschreckt», gab ich Tom Auskunft und da kam er bereits in die Küche. «Ui, was ist da für eine Versammlung? Hallo Ndbele, schön Dich zu sehen. Und hallo Lou.» Er machte eine kurze Pause: «Lou? Alles in Ordnung?» Sie winkte wieder nur müde. Er gab mir einen flüchtigen Kuss und schritt dann direkt zu Lou, ging vor sie in die Hocke und fragte: «Was ist Dir denn widerfahren? Du siehst gar nicht gut aus?» «Danke Tom, aber über mein Äusseres mach ich mir grad keine Gedanken, Mist ist passiert.» Erneut lud sie mit einem Wink Ndbele ein zu erzählen. «Lou hat die Baumann und den alten Gaffer beim Beischlaf erwischt und wie sich herausstellt, ist das für Beide von Nutzen gewesen.» «Also schon wieder Korruption bei den Gaffers? Für Liebe haben die offensichtlich nichts übrig.» Toms scharfe Analyse liess uns zumindest kurz schmunzeln. «Aber die Baumann? Was bringt ihr diese versuchte Nekrophilie?» «Tom bitte, mir ist schon schlecht», Lou hielt sich die Ohren andeutungsweise zu. «Na im Ernst. Was verspricht sie sich davon? Der Alte wird ihr doch nicht die Ehe versprochen haben, so kurz nach Ruth?» «Nein, aber wohl einen guten Posten, wenn es mit ihrer Wiederwahl nächstes Jahr nicht klappt. Und?» Ndbele machte einen fragenden Blick: «Hmmm, mir dämmert da was. Vielleicht hat er ja ihren letzten Wahlkampf bereits gefördert? So einen Trumpf gibt doch keiner aus der Hand.» «Hör auf», Lou wurde es zunehmend zu viel: «In welchem Sumpf arbeite ich da nur?» «Na Deine Weste ist doch weiss», versuchte ich sie zu beruhigen, aber erreichte genau das Gegenteil. «Ja weiss wie das Fell eines Schafes, eines blöden blökenden Schafs. Ich hab ja offenbar gar keinen Peil.» Lou schnappte sich ihr Glas, füllte es nochmals auf und setzte sich auf die Terrasse. «Jungs, wir müssen da etwas tun», Ndbele sah uns eindringlich auf: «Als Lou mich heute angerufen hatte und sie mir das erzählt hat, war sie dermassen durch den Wind, dass ich schon Sorge hatte, sie würde Knall auf Fall kündigen. Darum bin ich sofort nach der Arbeit hierher.» «Du bist ein Schatz, Ndbele», sagte ich und sah Tom zustimmend zunicken: «Ich fürchte aber, ich sag da im Moment nur Falsches.» «Ach Ritchie, jetzt bitte nicht. Jetzt geht’s um Lou und nicht um das, was Du nicht kannst.» Ndbele sah mich mit einer Mischung aus Drohung und Amüsiertheit an. «Sorry, aber hast Du eine Idee, Du bist doch vom Fach, was kann Lou da tun?» Sie zuckte die Achseln: «Im Moment wohl nichts anderes, als ganz normal ihrer Arbeit nachgehen, aber wachsamer als ohnehin schon.» Wir sassen einen Moment lang schweigend am Tisch, Lou blieb auf der Terrasse. «Meint Ihr, es wäre eine gute Idee, ich würde Thomas mal fragen? Er arbeitet gerade an einer Gaffer-Story und kann das eventuell einordnen?» unterbrach ich die Stille. Ndbele und Tom sahen sich, dann mich, dann wieder sich an. «Was meinst Du Tom?» fragte Ndbele. «Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, aber immerhin ist es eine», antwortete Tim: « Aber mach das so vorsichtig wie möglich, Ritchie. Und nicht heute, Du bist da gerade selbst noch zu emotional.» Autsch, das sass, manchmal traf Tom zwar den Nerv, aber auch wenn er recht hatte, tat es dennoch weh. Etwas wehleidig sagte ich nur: «Ich bin mit ihm morgen verabredet.» Und dann kam das Gift doch hoch: «Reicht das dem Herrn Lehrer?» Tom sah mich nur entgeistert an, schüttelte den Kopf und sagte nur: «Werd erwachsen Ritchie.» Ndbele sah abwechselnd zu Tom und mir: «Ich komm mir vor, wie bei meinen Erstsemesterkursen in Unternehmensführung. Veranstaltet Ihr diese Sitzungen regelmässig? Ich bring meine Studis gerne mal vorbei?» Ziemlich verdutzt sahen wir sie an und mussten dann doch lachen. «Ja mach das Ndbele, aber nur die knackigen Herren», Tom grinste frivol. «Du gibst jetzt auch noch Kurse?» versuchte ich das Gespräch zu drehen. «Netter Versuch Ritchie, und ich nehme das Angebot eines Themenwechsels gerne an: «Ja, schon seit drei Jahren. Die Uni hat fast alle städtischen Personalverantwortlichen eingebunden. Offiziell läuft das sogar als Programm `Klaiener Führungskräfte für morgen aus dem lokalen Markt gewinnen`, als wenn in Klaie nur Ortsansässige studieren würden. Aber mir machts Spass. Und …», sie setzte ein verschwörerisches Lächeln auf: «Ihr könnt Euch denken, welchen Spass ich da als schwarze Frau hab, wenn Sie alle zuerst meinen, was macht die Putzfrau am Rednerpult.» Sie lachte laut auf und wir stimmten mit ein.

Inmitten dieses fröhlichen Moments ging mein Blick Richtung Terrasse. Dort sass Lou regungslos auf dem Stuhl, die Arme weit auseinandergespreizt und in einer Hand ihr Ginglas. «Entschuldigt mich bitte», sagte ich zu Ndbele und Tom: «Aber ich möchte Lou jetzt nicht weiter so allein da sitzen lassen.» «Geh Du mal allein, Ritchie, vielleicht findest Du einen besseren Zugang als ich vorhin», gab mir Ndbele mit auf den Weg und vertiefte sich dann wieder ins Gespräch mit Tom. Ich ging ganz sacht zu Lou, so dass ich direkt vor ihr zu stehen kam. Ich nahm ihr das Ginglas ab und stellte es auf den Tisch, dann ging ich vor ihr in die Hocke und sagte nur: «Und Lou? Plagt Dich das Verhalten der Baumann oder Deine eigene Ohnmacht in diesem Sumpf?» «Ach Ritchie», mit leeren Augen sah sie mich an: «Wie konnte ich nur so blind sein? Bin ich eine dumme Pute?» «Ganz sicher nicht. Nicht Du. Das ist das Wesen von Korruption und Verschwörung – Tarnen, tarnen und nochmals tarnen. Ich möchte nicht wissen, was die Baumann in den letzten Jahren geschwitzt hat, ob sie es Dir gegenüber auch perfekt vertuscht.» Lou sah mich zuerst entgeistert, dann doch leicht neugierig an. «Das weiss ich noch aus meinem Studium, bei einer Verschwörung dürfen nicht mehr als zwei eingeweiht sein, sonst fliegt das auf. Und Du bist der Baumann die nächste, wie kam es denn heute überhaupt dazu, dass Du sie erwischen konntest?» Lou holte sich ihr Ginglas wieder und nahm erstmal einen kräftigen Schluck. Ich holte mir inzwischen einen Stuhl und setzte mich ihr gegenüber. «Offiziell war sie laut Kalender bei einem Investorenmeeting ausserhalb. Hmmm, das war aber ein Kalendereintrag von ihr, fällt mir gerade auf.» «Ist das ungewöhnlich?» «Ja schon, eigentlich hat sie kaum Einfluss auf ihre Agenda, wenn nicht das Büro des OB, dann trage ich die meisten Termine ein, schliesslich muss ich auch die meisten koordinieren.» «Und heute wars anders?» «Ja, ich hab da auch gar nicht gross nachgedacht, ich war bei der Abteilungsleitersitzung. Die ist immer montags und die Baumann geht da nie hin – Interessenkonflikte oder so ist die offizielle Ausrede. Eigentlich hat sie aber nur keine Lust auf diesen Männerhaufen und ihren Machtspielchen. Und so kann sie das Ganze vom Protokoll her noch steuern.» «Ja fiel die denn dann heute aus oder warum bist Du in ihr Büro gestürmt?» «Gestürmt ist der richtige Ausdruck. Ich hatte ein Dokument vergessen, das durften wir nicht per E-Mail versenden. Und prompt hatte ich die Ausdrucke für die Anderen in Baumanns Büro gelassen. Was auch eher selten ist, aber sie wollte noch jedem was Handschriftliches ergänzen.» «Damit hat sie wohl nicht gerechnet, dass Du zurück kommst?» «Sicher nicht, sowas ist mir auch noch nie passiert, bin ja sonst immer gut vorbereitet und checke meine Unterlagen dreimal.» «Aber wieso ist sie so unvorsichtig, es ausgerechnet in ihrem Büro zu treiben?» Damit hatte ich wohl einen weiteren wunden Punkt in Lous Gedankengänge getroffen. «Scheisse, Ritchie, genau das frag ich mich auch. Ich mein, das ist ihr Amtssitz, quasi öffentliches Eigentum. Und was der Gaffer da zu suchen hatte, ist mir auch schleierhaft.» «Ich wag mich mal weit ausm Fenster, aber kanns sein, dass er nach den Ereignissen vom Freitag einfach nur schauen wollte, ob es seiner Liebschaft gut geht?» «Hmmm, das wäre möglich. Vielleicht wollten sie aber auch nur die Bürgerversammlung nachbearbeiten, die Gaffer-Group hatte ja einige Zugeständnisse gemacht und vielleicht hat er übers Wochenende nachgerechnet…» Lou machte eine Denkpause. «Ich glaub eher Letzteres, Ritchie. Für einen fürsorgenden Liebhaber halt ich den alten Bock nicht.» Lou schnaufte kräftig bei diesen Worten und fing an, in ihr Glas zu starren. «Wieso hab ich all die Jahre nichts gemerkt?» «Ja woran denn, Lou? Das einzige, was ungewöhnlich war, sind die häufigen Ausschreibungsgewinne der Gaffer-Group gewesen. Und da hätte es viele Gründe geben können. Schliesslich gilt doch der alte Gaffer hier immer noch als Held und wahrscheinlich hat er viele helfende Hände in der Verwaltung.» «Hmmmm», grummelte Lou nur vor sich hin. «Und schau, hat Dich das Privatleben der Baumann interessiert? Was ist denn darüber überhaupt bekannt?» «Hmmm, nicht viel. Es wurde gemunkelt, dass sie nach der Scheidung nichts mehr von Partnern wissen wollte, sondern sich gelegentlich mit Escorts abgab. Praktisch und ohne Verpflichtung.» Sie machte eine Pause. «Aber jetzt mit dem Alten?» Sie schüttelte sich: «Sas kann doch keinen Spass machen.» «Naja, lass uns mal 70 werden und schauen, was das noch für einen Spass bringt:» Wir mussten kurz kichern. «Aber Ritchie, was soll ich denn nun tun? Ich weiss gar nicht, wie ich ihr morgen noch in die Augen schauen soll? Und das `Gespräch`», sie malte Anführungszeichen in die Luft, «danach war ja auch nicht gerade das angenehmste. Ein ertapptes Schulkind, das gleichzeitig Rektor ist.» «Lou, mach Dir nicht soviele Gedanken. Der Baumann geht’s heute sicher noch viel schlechter. Mach einfach Deine Arbeit. Und halt die Augen und Ohren weit auf, vielleicht kannst Du noch Infos sammeln. Und schau zu, dass Du in Erfahrung bringst, ob sie mit jemandem in der Kommission was zu tun hat. Das Ding ist mir eher schleierhaft, wie sie das deichseln konnte.» Jetzt kam ich mir vor, wie in meinem Studium. Gut, dass wir mal Korruption als Thema hatten. «Soll ich alle ihre Betten und Matratzen checken?» Lou sah mich leicht ratlos an. «Nein, Lou, nicht ihre Betten. Aber ihre besonderen Kontakte. Vor allem in die Kommission hinein.» Ich überlegte einen Moment. «Oder in die Baubranche hinein. Wenn es doch Preisabsprachen gab, dann war sie eventuell nicht unbeteiligt.» «Uff», Lou seufzte: «Das klingt nach Dreckwühlen.» «Vielleicht, aber geh nur soweit, wie das Dir passt. Im Moment bist Du doch auf der sicheren Seite. Aber Du solltest Dich absichern, falls die Baumann auf einmal mehr als sich selbst ins Unglück reissen will. Wenn die Prognosen nächstes Jahr so als Wahlergebnis eintreten, dann ist sie den Job los und wer weiss, an wem sie sich dann noch rächen will?» «Hmmm», Lou überlegte: «Bis heute Morgen hätte ich gesagt, dass da keine Gefahr besteht – aber jetzt?» «Na an Dir wird sie sich sicher nicht rächen wollen. Sei einfach so loyal wie bisher und mach Deine Arbeit. Sie muss jetzt schauen, wie sie damit umgeht.» «Ach Ritchie, Danke. Ja vielleicht muss ich auch einfach eine Nacht drüber schlafen. Und wenn es morgen nicht besser aussieht, hol ich mir nochmal Rat bei Dir.» Sie grinste mich an. «Gern, jederzeit, aber morgen dürfte es schwierig werden.» «Morgen schwierig? Seit wann sind Dienstagabende schwierig bei Dir?» Lou sah mich eindringlich an und ich sagte nur noch: «Thomas. Pasta. Wein. Körperkontakt.» «Ach, Ihr Verliebten. Okay, dann schon mal viel Vergnügen. Ich glaub, wir sollten wieder rein. Sieht ja sonst unhöflich aus.» «Hey Lou, Ndbele ist Deinetwegen gekommen, die wird Dir kaum böse sein.» «Hoffentlich.»

Wir gingen also wieder rein, Ndbele erzählte gerade von den Erfolgen ihrer Frau. Sie hatte vor zehn Jahren den internationalen Durchbruch in der Kunstwelt geschafft und sei fast ständig auf Achse in der ganzen Welt. Tom hatte einen feinen Rotwein geöffnet und wir nahmen uns ein jeder ein Glas und setzten uns dazu und lauschten. Danach wechselten die Themen munter und fröhlich und auch Lou fing an, ihr ernstes Gesicht zu verlieren. Von Mias Kunst über Lieblingsorte in Klaie bis hin zu den ersten Lieben war so ziemlich alles dabei. Die regelmässig zirkulierenden Joints entspannten den Abend zusehends. Gegen zehn kam auch Stefan heim, Tom nahm ihn gleich zur Seite und schien ihm auf der Terrasse zu erklären, was los war. Danach umarmte er Lou fest und flüsterte gerade noch so, dass wir es verstehen konnten: «Mach Dir keinön Kopf, Lou. Du hast jömandön örwischt, abör bist nicht örwischt wordön.» Lou grinste ob seiner Worte und wir nahmen das Gesprächsknäuel wieder auf, da ein roter Faden für keinen mehr erkennbar war.

Kurz vor elf verabschiedete sich Ndbele umarmungsreich von uns allen und nachdem Lou sie zur Tür gebracht hatte, kam sie zurück und verkündete: «Männer, mir ist diese Woche mal wieder nach gemeinsamen Abendessen. Das heisst für Euch, nach der Arbeit direkt heim. Ich mach meine berühmte Pizza auf dem grossen Blech, mit den Lieblingsbelägen von jedem von Euch. Ist Euch Mittwoch genehm?» «Ja», antworteten wir drei Angesprochenen wie brave Schulkinder im Chor und nickten eifrig mit dem Kopf, Lous Pizza konnten wir ohnehin nicht widerstehen und an einem solchen Abend ihr auch nicht ernsthaft widersprechen. «Also dann. Ich geh ins Bett, schlaft gut.» Sie gab jedem noch einen Gute-Nacht Kuss, ich folgte ihr auch bald und auch Tom und Stefan taten es uns gleich, nicht jedoch bevor sie noch in der Küche für Ordnung sorgten.

 

 

 

7 Energie

 

Als um halb acht mein Wecker klingelte, entschloss ich mich spontan, noch ein halbes Stündchen dran zu hängen. Ich würde ohnehin länger im Büro bleiben, um dann zu Thomas zu gelangen. Der Gedanke an ihn war bereits ein netter morgendlicher Aufsteller. Als ich dann um acht aus dem Bett kroch, empfing mich nur noch Mohrle, die mir neugierig auf jeden Schritt folgte und mal wieder mit dem Duschvorhang spielte, während ich mich duschte. Da der Wetterbericht stabiles mildes Wetter angekündigt hatte, nahm ich das Fahrrad zur Arbeit und genoss die morgendliche Luft auf dem Weg zum Büro. Natascha war heute auf der Jahrestagung der `Lesbian Leaders`, da durfte selbst ich nicht mal wissen, wo die stattfindet. Also konnte ich mich, vorausgesetzt, dass nicht wieder eine Tagesaktualität reinschneite, meinem Fundraisingprojekt widmen. Laut meinem neuen Lehrbuch wäre es wohl an der Zeit, einen Bettelbrief an die Unternehmen in Klaie zu schreiben und das nahm ich mir als Tagesprogramm vor. Die Aussicht auf den Abend mit Thomas machte mir ein sehr angenehmes leichtes Gefühl.

Das Thema für den Bettelbrief war dagegen nun gar keine leichte Kost. `Suizid bei homosexuellen Jugendlichen`. Ich ging ganz nach Lehrbuch vor. `Schritt 1 – Betroffenheit und Emotionen erzeugen`. Ich entschied mich, aus den Abschiedsbriefen von Klaiener Jugendlichen zu zitieren, die in den Suizid getrieben wurden. Mir selbst kamen dabei schon die Tränen und ich erinnerte mich an manche Gespräche, die ich dazu mit den Eltern geführt hatte. Ich war froh, als ich zum zweiten Teil kam, `Fakten`. Ich zählte verschiedene Statistiken auf und benannte all die Gründe, die mir bekannt waren oder die ich noch recherchierte: vom Mobbing unter Jugendlichen, `Heilungstherapien` bei allen möglichen und unmöglichen Psychiatern, Geistlichen oder sonstwie Selbstberufenen, religiöse Ängste durch konservative und sexualmoralische Familien und und und. Am Ende nahm dieser Teil eine ganze Seite ein. Ich musste an Mischa denken und wie er sich in seinem Umfeld immer wieder behaupten musste. Und mir fiel ein, dass unser Projekt für schwule Muslime auch nicht wirklich vorangekommen war. Ausser, dass wir unsere Bürotelefonnummer als Anlaufstelle veröffentlicht hatten. Und ausser zwei jungen Männern, die sich ab und zu bei uns Rat holten, kannte weder ich noch sonst wer aus dem Verein Betroffene. Und auch an Tom musste ich denken. Wie oft hatte man ihn schon versucht, als Lehrer abzusetzen. Ein offen schwuler katholischer Religionslehrer und Theologe, der musste doch entweder schizophren sein oder man musste ihn vor kleinen Kindern in Sicherheit bringen. Bislang hat er das aber mit grossem Langmut durchgestanden und sich seine Freude am Beruf ebenso wenig nehmen lassen wie seinen Glauben.

Im dritten Teil kamen dann die `volkwirtschaftlichen Schäden` dran. Immerhin starben ja nicht nur queere Jugendliche, sondern auch Schülerinnen, Auszubildende, angehende Leistungssportlerinnen, Musiktalente oder nur simpel gute Freunde und Menschen, in die Familie und Gesellschaft schon viel investiert hatten. Das Wort investieren gefiel mir zwar gar nicht, aber fürs erste musste das halt mal reichen.

Und zu guter Letzt, was alles passieren müsste. Aufklärung, Debatte, staatliche Verbote gegen Heilungen und religiöse Praktiken, Änderung von Schulbüchern, Geschlechterklischees. Das floss mir ja förmlich aus der Hand und ich war zum Schluss recht zufrieden mit mir. So konnte ich es Natascha morgen zur Kritik vorlegen. Unseren queeren Psychologen mailte ich es sofort zu, mit der Bitte um Korrekturen. Schliesslich wollten wir beim Spendensammeln gemeinsam auftreten. Die Uhr zeigte bereits sechs, als die Mail rausging. Ich hatte völlig die Welt um mich herum vergessen. Nicht mal mein Magen knurrte, obwohl er seit dem Morgenkaffee nichts bekommen hatte. Jetzt prüfte ich doch mal unser Telefon, ob alle Anschlüsse stimmten, denn auch das hatte heute nicht einmal geklingelt. Und auf meinem Mobiltelefon auch nur die üblichen Messages, auf die ich nicht reagieren musste.

Ich hatte also noch etwas Zeit, bevor ich mich auf den Weg zu Thomas machen wollte und so nutzte ich die Zeit, um auf unserer Vereinshomepage alle Vorbereitungen zu treffen, damit wir dort das Fundraising ebenfalls starten konnten. Und Natascha schrieb ich noch eine Notiz, sie möge bitte die gendergerechte Schreibweise festlegen, die aktuell bevorzugt wird. Sie war ja ein Fan des Gendersternchens, während ich die konsequente weibliche Form bevorzugte. Aber da sich das ja derzeit immer wieder mal änderte und sie schliesslich für unseren Aussenauftritt verantwortlich war, sollte sie das entscheiden.

Kurs vor sieben schwang ich mich auf mein Fahrrad und radelte zu Thomas los. Und auch hier war der Sommer zu spüren, so viele Räder waren sonst auch nicht unterwegs. Doch wegen der immer beliebter werdenden elektrischen Varianten musste ich höllisch aufpassen, nicht mit den schnell vorbeisausenden zu kollidieren. Aber meine Vorfreude auf den Abend war so gross, dass ich zwar ein paar Mal den Kopf schüttelte, aber mich sonst nicht gross aufregte.

Thomas empfing mich mit einem sommerlich leichten Tink Top, in dem er zum Anbeissen aussah. Hätte er mich nicht nach einer sehr innigen Begrüssung in seine Küche bugsiert, hätte ich wohl den Körperkontakt als Vorspeise genommen. «Die Pasta ist gerade al dente, also nimm Platz und schenk Dir noch Wein ein, ich hab bereits mein Glas voll», lotste er mich zu Tisch. «Wie war Dein Tag?» fragte er, während er frisch angebratenes Gemüse unter die Farfalle mischte. «Sehr produktiv. Ich hab endlich den Fundraisingbrief aufgesetzt, der mich schon seit ein paar Wochen beschäftigt.» «Für was willst Du denn Geld sammeln?» «Suizidgefährdete Jugendliche. Also mehr, zur Verhinderung von Suiziden. Wir wollen mit den queeren Psychologen eine Tour durch Schulen und Freizeiteinrichtungen machen und auf das Thema aufmerksam machen.» «Klingt ein wenig dröge, sorry Ritchie.» «Ja ich weiss. Aber solange wir keine grösseren Mittel haben, ist das mal das Machbare. Uns schwebt schon auch mehr vor, eine App, ein Videowettbewerb und tausend andere Dinge haben wir schon in der Schublade. Aber ich fürchte, dort werden sie auch bleiben. Zur Not machen wir das halt als Basistour in unserer Freizeit. Wäre ja nicht das erste Mal.» Während ich erzählte, hatte Thomas unsere Teller gefüllt und sich sein Glas Wein geholt. «Prost Ritchie, schön, dass Du da bist, einen Guten.» Er prostete mir zu und ich ihm, dann nahm ich den ersten Schluck und der Kerl hatte Geschmack: «Mmmmh», machte ich: «Was hast Du da für ein feines Tröpfchen?» «Gell, der ist gut? Aus meinem Kellerverlies, ein Merlot aus einem kleinen Anbaugebiet hier bei Klaie.» «Aus unserer Gegend? Das ist ja fast ein Wunder, das Zeugs konnte man doch sonst kaum trinken.» «Ja auch hier tut sich was.» Er lächelte mich an und ich nahm rasch noch einen Schluck, da ich merkte, wie mir die Augen feucht wurden. Dann kostete ich sein Abendessen und auch das war grossartig, frisch und passend zu einem sommerlichen Abend. «Ich habe bei Euch auf der Homepage gelesen, dass es am Wochenende wüst zugegangen sein muss. Also nicht das zwischen uns», fügte er schelmisch an. «Ach, ich sag Dir. Da braut sich etwas zusammen.» Ich brachte Thomas auf meinen aktuellen Wissensstand und liess nicht aus, dabei auch kräftig auf die hiesige Polizei zu schimpfen. Als ich auf Mischa und die Verbindung zu Stefan zu sprechen kann, legte er sein Besteck auf die Seite und lauschte gebannt meinen Worten. Als ich fertig war, meinte er erst lapidar: «Zufälle gibt’s.» Um dann sehr eifrig nachzufragen: «Ihr geht also davon aus, dass die Angreifer aus Nieder-Bergen stammen?» Sein Blick war ungewohnt scharf. «Ja, bisher deutet alles darauf hin. Vor allem wegen Ihres Schlachtrufes und des Akzents wegen.» Er pfiff durch die Zähne. «Das ist kein Zufall», begann er langsam und nachdenklich und ich sah ihn sehr erstaunt an: «Ich bin da an einer Geschichte – besser an einer Person in Nieder-Bergen dran. Also journalistisch.» Er sprach langsam und mit Pausen. «Die haben vor zwei Wochen einige junge Männer aus der Haft entlassen, angeblich gute Führung. Eingesessen wegen leichter Diebstähle, aber alles aus dem braunen Sumpf.» «Oha», kam es mir raus und nun legte ich mein Besteck auf die Seite, fragte aber noch: «Und was ist das für eine Person?» «Der Hauptstaatsanwalt aus Nieder-Bergen. Ein Karriere-Fascho wie aus dem Lehrbuch. Hatte ein paar sehr merkwürdige Anklagen im letzten Jahr und meine Redaktion und ich vermuteten, das könnte eine gute Geschichte werden. Seither sammel ich Informationen und recherchiere. Bislang hab ich aber nur das übliche, alte Kameradschaften, ein paar windige Zeugen aus seinem beruflichen Umfeld. Nichts, was sich lohnt für eine Story. Aber wenn es sich um die gleichen Leute handelt, die er freigelassen hat und die jetzt hier ihr Unwesen treiben, bekommt das eine sehr eigene Note.» Ich war ziemlich sprachlos und nahm noch einen Bissen. «Und diese Geschichte mit Mischa, das ist mir ein Ding. Ich hatte aus alten Zeitungen nur ein paar Infos, dass es da in den frühen Achtzigern mal einen Anschlag auf eine Kindertagesstätte gab, hab dem aber nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt.» Ich merkte wie sein Journalistenhirn ratterte und er Zusammenhänge baute. Er liess mich aber nicht wirklich teilhaben an seinen Gedanken, sondern fragte lediglich: «Und Stefans Vater war der Retter?» «Ja, sieht ganz danach aus. Mischa hat wohl einige Zeit noch erfolglos nach ihm gesucht, aber es dann offenbar aufgegeben.» «Ich glaub, ich werde ihn mal besuchen, habe ihn mal flüchtig getroffen, er wird sich wohl nicht an mich erinnern.» «Der Gute, der wird jetzt ja richtig bestürmt. Mischa wird ihn auch besuchen und dann noch Du.» Ich grinste Thomas an und er antwortete mit einem festen Kuss. «Wenn Du satt bist, würde ich aber jetzt gerne zum Nachtisch übergehen:» «Nichts lieber als das», und noch während ich das sagte, hatte Thomas sein Shirt ausgezogen und ich folgte ihm rasch und wir zogen uns ins Schlafzimmer zurück und genossen unsere Leidenschaft.

Als wir fertig waren und noch innig aneinander kuschelten, fragte er mich, ob ich nicht die Nacht über bleiben möchte, was ich dankend annahm. Ich musste nicht so früh im Büro sein und er konnte wegen eines Abendtermins auch erst später beginnen. So lagen wir noch eine Weile und erzählten uns Kindheits- und diverse Männergeschichten und schliefen dann selig gemeinsam ein.

Als um acht Uhr mein Wecker klingelte, lagen wir immer noch eng umschlugen zusammen. Thomas stand mit mir auf und begann in der Küche zu werkeln, während ich mich im Bad frisch machte. Offenbar hatte er fest mit meiner Übernachtung gerechnet, da bereits Handtuch und ein Duschgel für mich parat gelegt waren. Auch ein frisches T-Shirt in meiner Grösse hatte er parat. Ich entschloss mich aber, die alten Sachen noch einmal zu tragen. Als ich aus dem Bad kam, sass Thomas bereits am Küchentisch und las auf seinem Tablet die Neuigkeiten der Nacht. Er reichte mir eine Tasse frischen Kaffees und nach meinem ersten Schluck nahm er mich fest in die Arme. «Gut geschlafen?» «Oh ja Thomas, da war etwas sehr Wohliges neben mir.» Ich grinste ihn an und er zurück. «Ich freu mich schon aufs nächste Mal.» Er nahm wieder einen Schluck und ich sah ihn schmachtend an. «Ich auch.» Nach einer Pause meinte ich eher lapidar. «Eins hab ich gestern gar nicht mehr geschafft, Dir zu erzählen.» Er sah mich wortlos an. «Die Baumann und der alte Gaffer treibens miteinander.» Ihm fiel fast seine Tasse aus der Hand. «Wie bitte?» «Ja, Lou, meine Mitbewohnerin und Wohnungsbesitzerin hat sie vorgestern inflagranti in ihrem Dienstzimmer erwischt.» «Das ist ja ein Ding.» Er sah mich eine Weile an und ich merkte, wie sein Hirn Zusammenhänge herstellte: «Korruption?» «Sieht danach aus, antwortete ich: «Sie sichert sich offenbar ab, falls sie nächstes Jahr ihr Amt verliert, er schanzt sich Aufträge zu. Aber da tappt Lou noch im Dunkeln, wie das tatsächlich vor sich ging.» «Oh wow.» Thomas war sichtlich mächtig überrascht von der Neuigkeit. «Das erklärt ja einiges, was wird Lou nun machen?» «Sie hat das ziemlich getroffen und schämt sich fast, ob ihrer Blindheit.» «Sie schämt sich? Hat ihr keiner gesagt, dass das Wesen von Korruption ist, dass keiner etwas mitbekommt?» «Ich habs versucht», antwortete ich ihm und er nickte mit einem grossen Grinsen: «Aber sie geht erstmal auf Nummer sicher, nichts eskalieren lassen und ein paar Fakten sammeln. Vor allem, wie die Baumann das mit der Ausschreibungskommission gedeichselt hat. Wir vermuten auf Parteikollegen, es gibt aber noch nichts handfestes.» «Meinst Du, sie wird sauer, wenn ich mich auch mal umhöre?» Thomas wirkte recht entschlossen und ich meinte nur: «Würde das etwas ändern? Du scheinst doch bereits Blut geleckt zu haben.» Er lachte und sagte ganz verschmitzt: «Wie lange kennen wir uns schon? Vier Jahre?» Ich lachte zurück und meinte nur «Auf alle Fälle zu kurz.» «Du Charmeur.» Wir küssten uns innig und ich trank meinen Kaffee aus. «Ich sollte jetzt aber los, lass uns sobald wie möglich telefonieren und den nächsten Körperkontakt planen. «Oh ja, unbedingt Ritchie. So rasch wie möglich.» Noch einen langen Kuss und ich verschwand aus seiner Wohnung und als ich mich aufs Rad geschwungen hatte und losfuhr, stand er am Fenster und winkte mir nach. Ah fühlte sich das gut an.

 

 

 

8 Entwicklungen

 

Als ich ins Büro kam, war Natascha gerade am Telefon, wirkte aber sehr aufgeregt. Ich hörte nicht genau hin, sondern kümmerte mich erstmal um Kaffee und das Starten des PCs. Sie beendete auch alsbald Ihr Telefonat und kam auf mich zu. «Gute Neuigkeiten, Ritchie. Unsere Nachfassaktion hat Wirkung gehabt. Von den Opfern am Wochenende haben nun sieben eine Strafanzeige bei der Polizei gemacht und wie ich gerade erfahren habe, hat sich der Verdacht mit Nieder-Bergen bestätigt. Offenbar erkennen diesen Akzent doch einige.» «Na das ist doch – unter den Umständen», ich machte eine Kunstpause, «eine positive Entwicklung. Da kann die Polizei sicher nicht aus und muss etwas unternehmen.» «Die sind schon dran», entgegnete Natascha und brachte mich auf den neuesten Stand: «Koller hat sich bereits gemeldet. Er hat schon mit Polizei und Staatsanwaltschaft in Nieder-Bergen Kontakt aufgenommen und die lassen wohl Ermittlungen zu, zumindest haben ihm das seine Kollegen von dort so mitgeteilt. Ausserdem gehen zwei Streifen ab Freitag zusätzlich durch die Stadt und nehmen die HotSpots in Augenschein.» «Ist das eine gute Idee? Unsere Leute werden sicher ungern beim Rumvögeln von Polizistinnen beobachtet.» «Du wieder. Ich denke, das werden die schon diskret genug machen. Und wenn – Koitus interruptus ist nicht nur für das Männlein-Weiblein-Gespann eine Methode.» «Okay Natascha, aber wir informieren unsere Gruppen, nicht, dass da welche überrascht werden und sich dann bei uns beschweren.» «Ah gute Idee, ich mach ohnehin für unsere Frauen noch einen Sondernewsletter zur Führungsveranstaltung. Da mach ich gleich noch einen zweiten.» «Ach, Natascha, Du und der Koller habt schon telefoniert. Sag mal, versucht der, mich zu meiden?» Natascha sah mich an, als wär ich von einer anderen Welt. «Ernsthaft Ritchie?» «Ja ernsthaft, hab ich was verpasst?» «Hast Du. Du magst ja ein Gaffer sein, ein Lauscher bist Du nicht.» Sie hoffte auf ein Lachen von mir ob ihres Wortspiels, aber mein verdutztes Gesicht zerschlug ihre Hoffnung. «Der Koller ist entweder latent schwul oder ein Missbrauchsopfer. Ganz sicher sind wir uns da nicht.» «Wer sind `wir`?» «Äh, die queere Community in Klaie und speziell meine Mädels bei der Polizei.» Sie sah meinen fragenden Blick und führte dann freundlicherweise aus: «Koller ist im Internat bei den Katholen gewesen, hier bei Sankt Emmeran.» Ich war wieder etwas klarer und fragte nur: «Dort, wo es letztes Jahr den Gruppensuizid gab?» «Genau dort. Die Verhältnisse haben sich nicht gebessert. Also entweder hat er dort schlimmes erfahren oder er kämpft gegen sein Schwulsein an. Offenbar stellt er besonders gern knackige Männer ein, aber bei den Beförderungen achtet er sehr darauf, dass kein Schwuler oder geschweige denn eine Frau nach oben kommt. Schon dreimal musste die Gleichstellungsstelle eingreifen und der OB hat auch schon interveniert. Sag mal, hörst Du solche Sachen nicht?» «Ja offenbar nicht. Dass mit dem Koller was nicht in Ordnung ist, soweit bin ich schon, aber davon hatte ich keine Ahnung.» «Gut, dass Du mich hast. So ich mach mich ans Werk mit den Newslettern. Oder hattest Du etwas anderes für mich geplant?» «Nur den Fundraisingbrief versenden, aber da muss ich erst noch die Adressen aktualisieren», ich grinste sie an: «Heute so auf Mitarbeitermodus?» «Na ab und an kann ich Dir doch mal ein Chefgefühl geben.» «Ja, das brauch ich dringend, vor allem nach diesem Wecken aus meinem Realitätsschlaf. Aber nun ran ans Werk.» Sie sah mich noch einen Moment ein und da fiel mir doch noch was ein, «Ach, so nebenbei noch, kannst Du Dich bei Gelegenheit mal bei Deinen Frauen umhören, ob da welche aus Nieder-Bergen sind und ob sie die Situation für Queere dort einschätzen können? Ich glaub, wir sollten das Thema etwas höher hängen.» «Hmmm, kann ich machen, aber an was denkst Du da genau?» «Ist noch sehr unrein, Natascha, aber mein Thomas», ich erschrak kurz über meine Wortwahl, aber nun war sie ja raus, «also der ist Journalist und hat da wohl eine Geschichte über Nieder-Bergen im Köcher. Aber ich glaube nicht, dass er top informiert ist über Lesben und Transgender – zumindest nicht von dort. Vielleicht braucht er Infos. Ausserdem gibt’s dort wohl einen Staatsanwalt, der Verbindungen zu den Faschos hat, das könnte ein Knüller werden.» «Wow, das sind ja nun mal wirklich heisse Bettgeschichten, Du hast ja doch ab und an auch Deine Lauscher an.» Sie stupste mich in die Seite: «Weiter so, Ritchie, Vögeln für die Aufklärung – find ich gut.» Mir fiel nun nichts mehr ein, liess meinen Mund weit offen, deutete aber mit meinen Händen an, dass sie sich jetzt mal an die Arbeit machen sollte. Trotzdem genoss ich es, mit so einer Unkomplizierten arbeiten zu können. Wenn ich da an ihren Vorgänger dachte. Schnell schob ich diesen Gedanken weg und machte mich an mein eigenes Werk und begann im Internet über Firmen in Klaie und Umgebung zu recherchieren, vielleicht liess sich ja ein potentes Unternehmen für unsere Sache finden.

Irgendwann kam ich dann auch zur Gaffer-Group und fand in unserem Adressverteiler gerade eine Anschrift, die der Zentrale der Holding. Auf ihrer Internetseite waren aber gut ein Dutzend Divisionen, Firmen und Gesellschaften aufgeführt. So fragte ich dann doch mal bei Natascha nach: «Natascha, ich muss Dich mal stören.» «Nur zu, ich komm eh gerade nicht recht weiter. Was gibt’s?» «Die Gaffer-Group – ich finde hier nur die Adresse der Zentrale, hast Du da nur einen Brief rausgelassen beim letzten Mal?» «Ja, damals waren die gerade im Umbau und hatten nur eine publiziert. Aber schau mal in unserem Privatadressenordner, ich hab einige Familienmitglieder einzeln angeschrieben. Ich glaub, es waren der Alte und die Söhne.» «Ah danke, das heisst, jetzt, wo die anderen Firmenteile auch bekannt sind, können wir da mehr rauslassen?» «Ja gern doch, das macht dann nachher eh der Computer, da haben wir keine zusätzlichen Portokosten.» Sie grinste schelmisch. «Na dann mach ich das doch mal und ich glaub, ich nehm die neue Gaffer-Frau in den Privatverteiler, die hätte zumindest Geld.» «Und sauberes. Anders als Ihr Mann. Es leben die Frauen!» Natascha reckte dabei ihren Arm nach oben und ballte die Faust. «Und die guten Männer bitte auch!» rief ich ihr noch entgegen.

Der restliche Tag verlief dann recht gemütlich weiter und bis zum Feierabend waren wir beide mit unseren Aufgaben fertig und ich freute mich auf mein WG-Leben und Lous Pizza. Beim Abschliessen des Büros fragte ich aber noch Natascha nach ihren Abendplänen. «Mädelsgrillabend.» «Du? Grillen?» fragte ich sehr erstaunt. «Vegan, Ritchie, Gemüse und Pseudowürste. Aber ich glaub, die nur, um üble Männerwitze zu erzählen. Schmecken tun sie mir nicht und als Dildoersatz taugen sie auch nichts.» Sie schüttelte angewidert ihren Kopf und ich musste ob der Vorstellung veganer Dildos laut auflachen. «Na da wünsch ich viel Vergnügen und die Würste vorm Verzehr gut blasen, äh kühl pusten.» Sie kicherte und machte sich auf den Weg, während ich mein Rad bestieg und gemütlich über ein paar Extrakurven nach Hause fuhr.

In unserer Wohnung empfing mich Mohrle endlich wieder wie gewohnt und ein angenehmer Duft von frischem Gemüse und den anderen Beilagen. «Hallo Ritchie, schön, dass Du schon da bist, magst mir noch ein wenig helfen?» «Sicher Lou, sag mir, was ich machen soll und ich machs.» «Na das ist ein Angebot», Lou grinste mich verwegen an und bat mich lediglich, den Wein zu köpfen und Wasser aufzusprudeln, falls jemand Schorle möchte oder einfach nur Wasser pur. Dann hörten wir auch Tom heimkommen und kurz darauf Mohrles Schmatzen. «Hallo Ihr Zwei», Tom hatte sichtlich gute Laune, konnten wir seiner Stimmlage entnehmen. «Mmmmh, das duftet ja schon fein.» «Die Pizza ist gerade in den Ofen gekommen, in einer halben Stunde können wir essen», klärte Lou ihn auf und ich fragte Tom: «Stefan kommt auch?» «Er hat nichts anderes gesagt. Und im Moment ist in seinem Betrieb Sommerflaute, mich wundert, dass er noch nicht da ist. Na er hat ja noch einen Moment.»

«Na dann kosten wir erstmal den Wein», sagte Lou und goss uns ein. Tom und ich nahmen vorsichtig je einen Schluck und synchron gingen unsere Daumen nach oben. «Was ist das für ein feiner Tropfen?» wollte Tom wissen. «Weiberwein. Klaiener Weiberwein um genau zu sein», antwortete Lou und wir machten erneut synchron eine gleiche Aktion, diesmal ein fragendes Gesicht. «Meine Freundin Steffie hat den gemacht, zusammen mit ihrer Frauenkooperative. Sie hat vor ein paar Jahren das Weingut ihres Vaters geerbt, das war aber ein ziemlicher Fusel. Nun hat sie zusammen mit ihren Weibern den ersten eigenen Wein mit eigenen Trauben gekeltert. Lecker, gell?» «Ja in der Tat», lobte ich: «Ist das die grosse Blonde mit der heiseren Stimme?» Lou lachte: «Ja genau die. Nächstes Jahr steigern sie ihre Produktion deutlich, dieses Jahr gibts nur für auserwählte Menschen ein paar Fläschchen.» Ich nahm noch einen Schluck und war erneut begeistert. «Reservier uns ein paar Kartongs, bitte.» «Schon längst gemacht, ich durfte bereits probieren.» Tom prüfte sein Glas noch gegen das Licht und noch bevor er etwas sagen konnte, wechselte Lou das Thema: «Und Tom, was macht Dein Sozialprojekt?» «Das läuft bestens.» «Ach darum Deine gute Stimmung?» fragte ich nach. «Ja, letzten Freitag hatte ich noch den Elternabend und wir haben auch von dieser Seite grünes Licht bekommen.» «Und was ist das genau für ein Projekt?» «Passt zum Wein», machte Tom die Sache spannend: «Selbstbestimmtes Leben für Frauen, meine Schülerinnen und Schüler sammeln Geld für verwitwete Frauen, um ihnen den Start in eine berufliche Selbständigkeit zu ermöglichen.» «Ui, irgendwo auf der Welt?» Lou wollte es genau wissen. «Nein, für Frauen hier in Klaie. Es gibt da gerade unter Migrantinnen einige, die ihre Männer auf der Flucht oder durch Kriege verloren haben und meist nur schlechte Schulbildung in ihrer Heimat bekommen haben. Und die sollen jetzt ein wenig Startkapital bekommen. Als erstes wird ein Nähstudio eröffnet.» «Das klingt aber, als wäre das schon weit gediehen?» «Ist es Ritchie, ist es. Die haben letzten Herbst angefangen zu recherchieren und im Frühjahr ging es bereits in die Konzeptphase und nun sammeln sie Geld. Die haben zuerst beim Bistum angeklopft, schliesslich machen sie das ja auch als Religionskurs. Die haben in der Bistumsverwaltung nicht schlecht gestaunt und dann erstmal geblockt, weil es überwiegend muslimische Frauen sind. Aber sie wollten dann nicht als schlechte Christen dastehen und haben tatsächlich einen grossen Batzen gegeben.» Tom grinste über alle Backen. «Die haben sich sogar eine Audienz beim Bischof geben lassen, fitte Mädels und Jungs, das muss der Neid ihnen lassen.» «Na da muss einem vor der neuen Generation nicht bange werden», warf Lou ein und sah dann auf die Uhr des Ofens: «Tom, magst Du nicht mal bei Stefan anrufen, die Pizza wäre bald fertig, sonst fangen wir dann ohne ihn an.» Tom nahm sein Telefon zur Hand, um kurz darauf zu melden: «Ist ausgeschaltet. Na er wird sich schon noch melden, er weiss doch, dass wir heute WG-Abend haben.» Nach einer kurzen Trinkpause eröffnet er mir dann noch: «Ach Ritchie, Stefan und die Antifagruppe nehmen morgen Abend Deinen Thomas in Beschlag.» «Wie? Warum das?» «Sie wollen gemeinsam die Rechercheergebnisse abgleichen.» «Was gibt’s denn gemeinsam zu recherchieren?» «Na die Überfälle vom Wochenende. Es ist doch nun offiziell, dass die Täter aus Nieder-Bergen kommen, Thomas hat Infos zu den Entlassenen von dort und wir die Daten aus den Fascho-Rechnern. Und die wollen sie abgleichen, ob sich da ein Zusammenhang erkennen lässt.» Lou sah irritiert erst zu Tom, dann zu mir und dann erneut zu Tom: «Ihr glaubt, da gibt es Zusammenhänge? Klingt mir ein wenig nach Verschwörungstheorie.» «Ach Lou», Tom wechselte wieder in seinen väterlichen Ton: «Ich wäre eher froh, wenn es nur eine Theorie wäre. Aber so wie Deine Chefin ganz real mit dem alten Gaffer vögelt, so wahrscheinlich ist es, dass aus Nieder-Bergen ein gezielter Angriff auf Klaie gestartet wurde. Immerhin sind wir das weltoffene Herz der ganzen Region, das passt einigen nicht. Insbesondere einem Staatsanwalt aus dem braunen Sumpf nicht.» Lou sah noch irritierter aus als eben noch. «Da hat Thomas was angedeutet», brachte ich mich nun auch ins Gespräch ein, «offenbar ein ziemlicher Fascho. Hat ein paar Schlägertypen wegen angeblich guter Führung entlassen, kurz vorm letzten Wochenende und Thomas hat bereits den Verdacht geäussert, dass von denen einige hier in Klaie waren.» «Oh Göttin, was sind das für Zeiten?» Lou schnaufte schwer: «Und wenn ihr da was entdeckt? Was macht ihr dann mit den Infos?» «Darüber soll eben morgen nachgedacht werden», antwortete Tom, «für uns alle ist das im Moment auch noch nicht genau fassbar, aber besser wir sind gewappnet. Ich kann leider nicht dabei sein, da ich mit meinem Kurs zu den Besinnungstagen nach Felsenrain fahre.»

Lou und ich starrten beide in unsere Weingläser, irgendwie war die Stimmung auf einmal gekippt, doch das Klingeln des Ofens weckte uns aus unserer Lethargie. «So, jetzt zu etwas Erfreulichem», sagt Lou, nahm das grosse Blech aus dem Ofen, «hier für jeden Pizza mit Euren Lieblingsbelägen. Da wäre Birne Hawaii für Ritchie, Salami und Chillies für Tom, Extra-Käse und Hühnerbrust für Stefan, wenn er jetzt noch kommt, und für mich mit extra Gemüse.» «Mmmmhhh, klingt lecker», freute ich mich laut und sah Lou zu, wie sie gekonnt die einzelnen Teile auf Teller hob und sie uns servierte. «Sieht köstlich aus, Danke Lou», sagte Tom während wir deutlich das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen hören konnten. Schweigend begannen wir das köstliche Mahl und irgendwann kam auch Mohrle dazu und sah uns mit hungrigen Augen an. Wie immer musste sie es beim Zusehen belassen, aber wir hatten endlich ein Thema und jeder erzählte, was er mit unserer Hauskatze die letzten Tage so erlebt hatte, eine gelungene Themenabwechslung. Wir hatten noch nicht ganz fertig gegessen, da sauste Mohrle zur Wohnungstür und wir hörten einen Schlüssel im Schloss, wie sich gleich danach die Tür öffnete und Stefans Stimme, der die Katze begrüsste. «Ah, besser er kommt noch, bevor wir uns über seinen Teil hergemacht hätten», frotzelte ich und dann kam Stefan auch schon in die Küche. Er sah wüst aus, das T-Shirt leicht zerrissen und mit Blutflecken verschmiert, seine Nase ebenfalls blutverschmiert. «Oh mein Gott», rief Tom und nahm ihn erstmal in die Arme, «was ist Dir denn passiert?» Doch Stefan antwortete nicht direkt, sondern meinte nur: «Macht mal Radio Klaiö an, das dürftö Euch intörössierön.» Er setzte sich rasch hin und Lou brachte ihm sein Stück Pizza, während ich das Radio anstellte und den Lokalsender wählte. Es war kurz vor acht und damit Zeit für die Nachrichten. Noch lief aber zuerst der übliche Werbeblock und während sich irgendein Autohaus und ein Restaurant um Kundschaft bemühten, sahen wir schweigend Stefan beim Essen zu, nach seiner Ankündigung wagte es keiner, auch nur irgendetwas zu fragen. Und dann kamen die Nachrichten. Stefans Ankündigung war gleich die Hauptschlagzeile.

«Wie Radio Klaie exklusiv erfahren hat, haben sich heute am frühen Abend drei junge Männer aus dem rechtsnationalen Umfeld bei der Polizei gestellt. Sie haben zugegeben, letzten Freitag im Anschluss an eine Bürgerversammlung zur Südstadtplanung in Gorillakostümen Eier geworfen zu haben. Wie berichtet sind dabei die Dezernentin Baumann und ihre Mitarbeiterin verletzt worden. Die jungen Männer baten zudem, in Polizeigewahrsam genommen werden zu dürfen, da sie offenbar bedroht worden seien. Die Polizei bestätigte bisher lediglich, dass sich drei Männer bei ihnen eingefunden haben, gegen die im Zusammenhang mit den Eierwürfen nun ermittelt werde und dass diese um Schutz gebeten hätten. Auf der üblichen Mittwochspressekonferenz am Vormittag hatte Polizeipräsident Koller auf Nachfrage von Radio Klaie bislang nur geäussert, dass sich die Ermittlungen zu den Freitagsvorfällen vor allem auf das linke und autonome Umfeld konzentrieren würden. Koller nahm zudem zu den Warnungen des Vereins Klaqueur Stellung, wonach es am Wochenende zu mehreren Angriffen auf homosexuelle Männer gekommen sei. Auch hier ermittele die Polizei noch ergebnisoffen, Hinweisen, dass es sich um Täter aus Nieder-Bergen handele, nehme man ernst, sie seien aber nicht die einzigen, denen nachgegangen werde. Wie Radio Klaie aus gut unterrichteten Kreisen erfahren hat, könnte es sich dabei um junge Männer handeln, die erst letzte Woche in Nieder-Bergen aus der Haft entlassen wurden. In unserem Abendjournal um 21 Uhr werden wir detailliert auf diese Fragestellungen eingehen.» «Dein Thomas ist dör gut untörrichtötö Kreis», unterbrach Stefan unsere Radioaufmerksamkeit und wir sahen uns verstört an. «Und Du? Was hast Du dabei für eine Rolle gespielt?» fragte ich recht ungeduldig. «Naja», Stefan grinste aus seinem zugerichteten Gesicht, «ich hab dör Göständigkeit dör Jungs ötwas nachgöholfön.» Nach einer kurzen Pause drehte er sich zu Lou: «Du musst keinö Angst vor weiterön Eiörn habön. Die Pizza ist übrigöns supör.» «Danke», sagte Lou knapp, erhob sich und liess noch wissen: «Ich hol jetzt mal unseren Erste-Hilfe-Koffer, ich kann gar nicht mehr hinsehen, das muss doch verarztet werden.»

Tom ging wortlos zu seinem Mann und nahm ihn erneut fest in die Arme: «Wieso hast Du denn nichts gesagt?» flüsterte er. «Sorry, Tom, abör das musstö schnöll göhön. Hab einön Tipp bökommön, die drei wolltön sich aus döm Staub machön. Heinar hat die Laptops ausgöwörtöt und mir Böscheid gögöbön.» «Na es ist ja nochmal gut gegangen. Tut es sehr weh?» Noch bevor Stefan antworten konnte, war Lou mit den notwendigen Hilfsmitteln da und behandelte erstmal die wichtigsten Stellen. Danach nahm sich Stefan erstmal einen Joint und nachdem wir auch alle einen Zug davon genommen hatten, fing er an zu erzählen. «Die Jungs warön röcht übörrascht, als Heinar und ich da auftauchtön.» Er lachte laut auf. «Und sie wolltön nicht wirklich schnöll zur Polizei. Abör wir hattön noch ein paar anderö Sachön göfundön, das und ötwas Muskölkraft hat sie dann doch übörzeugt.» Tom schaltete sich ein: «Heinar konnte aus den Laptopdaten vom Wochenende das eindeutig belegen, dass es die drei waren?» «Ja, die Döppön hattön ihrön Plan pör Mail ausgöhöckt und wir habön die Mails göfundön. Und auch einön Übörfall auf einö Tankstöllö in Klaiö. Mit döm Hinweis hättö die Polizei sie auch schnappön könnön. Doch uns war wichtig, dass sie nicht abhauön.» Stefans Blick triumphierte und nachdem Lou ihn wieder etwas hergerichtet hatte, sah er richtig zufrieden aus.

«Und was hat Thomas bei der ganzen Sache zu tun gehabt?» Allmählich dämmerte mir es, dass die Geschichte noch nicht fertig erzählt war, aber Stefans Antwort war nur kurz. «Ör hat heutö morgön die Fragön zu dön Übörfällön göstöllt und als wir die drei hattön, hat ör Kollör informiert, dass gleich Wichtigös passierön wird und ör zur Stellö sein solltö.» Tom sah meinen ungläubigen Blick: «Ritchie, Thomas ist sowas wie der inoffizielle Pressesprecher der Antifa. Er hat gute Verbindungen zu den Medien, zur Polizei und auch in die Stadtverwaltung rein. Wenn er sich meldet, wissen alle, jetzt kommt was wichtiges.» Er machte eine Pause, dann sah er mich recht verschmitzt an: «Wenn Koller erfährt, dass jetzt auch der oberste Schwule der Stadt noch mit dieser wichtigen Quelle schläft, hat er keine ruhige Minute mehr.» Ich verstand nicht recht und er legte nach: «Koller hat irgendeinen Dreck am Stecken, wir wissen alle nicht genau, welchen. Aber wir glauben, dass er gehörig Angst hat, Thomas kennt ihn. Und Thomas wird ihn bei den homophoben Übergriffen vom Wochenende nicht in Ruhe lassen, er hat ja heute schon nachgelegt. Wenn er dann noch weiss, dass Du an der Quelle sitzt ...» «Hmmmm, das eröffnet ja ganz neue Optionen.» Ich kapierte nun auch und irgendwie gefiel mir meine neue Macht. Stefan blieb das nicht unbemerkt. «Schau Tom, unsör Ritchie wächst grad übör sich hinaus.» «Mighty Ritchie», doppelte Tom noch nach und ich goss mir lieber noch Wein nach, als darauf einzugehen. Lou sass mittlerweile nur noch kopfschüttelnd daneben und liess ab und zu den Mund offen.

«Apropos Dreck am Stecken», ich merkte wie meine Stimme doch noch im Mighty Modus war: «Natascha hat mir da heute was über den Koller erzählt. Der war wohl in Sankt Emmeran im Internat». «In dem Pädokloster?» unterbrach mich Tom. «Wenn Du es so nennen magst», entgegnete ich, «jedenfalls muss da wohl was passiert sein. Nataschas Frauen aus der Polizei berichten ihr, dass er zum einen einen guten Blick für scharfe Männer hat, zum anderen aber weder Frauen noch offen Schwule befördert. Die Gleichstellungsstelle musste wohl auch schon intervenieren.» Tom pfiff durch die Zähne. «Na das ist doch mal was», Tom bekam deutlich Euphorie in seine Stimme und Stefan nickte so gut er konnte ohne Lou zu stören, die nach dem Gesicht nun auch die anderen Stellen am Verarzten war. Die brachte sich aber nun auch noch ein: «Tom, wenn Du sagst `mal was` klingt das, als wär das nicht genug?» «Scharf beobachtet», Tom lachte auf, «das mit seiner Personalauswahl ist mir jetzt zwar neu, aber wir suchen nach den Gründen, warum er überhaupt auf dem Posten ist. Laut Dienstreglement erfüllt er nicht alle Kriterien, besonders bezüglich Führung nicht.» «Ihr denkt also in Richtung `eine Hand wäscht die andere?`» bohrte Lou weiter nach. «Genau das», brachte sich nun auch Stefan wieder ein, «ör hat dön Postön zu dör Zeit bökommön, als ein Röchtör Polizeidözörnönt war.» «Scheisse ja», rutschte es mir raus, «da war doch anfangs sogar eine Frau im Gespräch, die aber kurz vor der Wahl ihre Kandidatur zurückzog.» «Richtig Ritchie, wir glauben da nicht an Zufälle», sagte Tom und mir fiel sein erneutes `wir` auf, er schien sich ja immer mehr mit seiner Antifa-Gruppe zu identifizieren.

«Ach Ritchie», wechselte Stefan das Thema, «einön schönön Gruss von meinöm Vatör.» Ich sah in fragend an: «Wie komme ich zu der Ehre?» «Mischa hat ihn angörufön, ör ist ganz aus döm Häuschön, am Samstag tröffön sie sich, ör dankt, da Du sie wohl zusammöngöbracht hast.» «Ach so, ja das war mehr Zufall als Absicht. Schon erstaunlich, wie klein manchmal die Welt ist.» «Mischa? Stefans Vater?» Lou fragte irritiert. «Ja stell Dir vor Lou, Mischa, der Präsident der queeren Juden ist der Junge, den Stefans Vater seinerzeit aus dem Kindergarten gerettet hat.» Lou musste sich setzen: «Das ist jetzt nicht wahr?» «Doch, doch», entgegnete ich: «Durch den Verdacht, dass die Schläger vom Wochenende aus Nieder-Bergen stammen, kamen wir auf das Thema und da stellte sich das raus.» «Wow», machte Lou nur, nahm noch einen Schluck Wein und danach war uns genug von ernsten Themen und wir blieben, bis wir ins Bett mussten, bei lustigen Zufällen aus unseren Leben.

 

 

 

9 Angriff

 

Meinen Wecker hatte ich vorsorglich erst auf acht Uhr gestellt und so war ich bereits beim Aufstehen munter und fühlte mich ausgeschlafen. Mohrle begleitete mich auf dem Weg zur Küche, wo ich mir einen Kaffee rausliess und den ersten Schluck genoss. Alle anderen waren offenbar schon aus dem Hause und die Stille fand ich gerade sehr angenehm, der Blick aus dem Fenster auf einen Prachtstag tat sein Übriges. Dann nahm ich mir mein Telefon und fand eine Nachricht von Thomas darauf. «Guten Morgen mein Schöner, ich wünsche Dir einen wundervollen Tag. Ich habe heute Abend noch ein Treffen, würde Dich aber gerne danach noch sehen. Kuss von Deinem Thomas.» `Wow, dachte ich mir, das ist doch mal eine schöne Überraschung`. Sofort versuchte ich ihn anzurufen, doch es war nur sein Beantworter dran. Also liess ich ihn per Textnachricht wissen, dass ich ihn im Laufe des Tages noch zu erreichen versuche. Und schickte drei Küsse, wenn schon, denn schon.

Sonst boten weder meine Nachrichtendienste, noch meine privaten Textdienste irgendetwas Lesenswertes und ich beeilte mich, rasch ins Büro zu kommen. Die Temperaturen waren noch mässig warm, so dass ich erfrischt Punkt neun mit dem Fahrrad dort ankam. Natascha sass bereits an ihrem Rechner und tippte wie wild darauf herum. «Was gibt’s Neues?» fragte ich und sie sah knapp zu mir und meinte nur: «Bislang noch nichts. Aber es ist auch noch früh.» Und schwupps war sie wieder in ihre Arbeit vertieft. Ich machte es mir an meinem Tisch bequem, startete den Rechner und sah mir mein Tagesprogramm an. Da gabs nur einiges Administratives, Glückwunschkarten, Finanzen und solche Sachen. Und wie immer dick eingetragen

`Fundraising`, das kann jetzt noch warten, der Brief ist ja immerhin aufgesetzt, ging es mir durch den Kopf. Da wurde ich vom Klingeln des Diensttelefons unterbrochen. An der Nummer sah ich, dass Mischa dran war. «Schalömchen», rief ich erfreut in die Muschel und bekam ein fröhliches «Schalömchen Ritchie» entgegengebracht. «Was gibt’s Mischa? Ach übrigens, Danke fürs Danke, Stefan hat mir ausgerichtet, dass Du seine Eltern am Samstag siehst.» «Ah der gute Stefan, hat er es also ausgerichtet. Ja ich freu mich sehr. Aber das ist nicht der Grund meines Anrufs.» «Nicht?» «Nein, Ritchie. Hör zu, bitte. Wir haben heute unser Monatsmeeting und wir möchten gerne die Überfälle vom Wochenende und die Sprayereien besprechen. Hast Du Zeit und kannst Du dazukommen? Meine Leute würden sich sicher freuen und so bekommen wir Infos aus erster Hand.» Ich überlegte kurz, Thomas hatte ohnehin heute Abend seine Antifabesprechung und ich nicht wirklich was vor. «Ja gerne.» Vor meinem geistigen Auge liess ich schnell die Gesichter der queeren Männer aus Mischas Gruppe vorbeiziehen. «Ist denn der heisse Elias auch dabei?» feixte ich fragend. «Ja, Ritchie, Elias ist doch mein Stellvertreter, der ist sicher dabei. Aber mach Dir mal keine falschen Hoffnungen, der ist seit drei Monaten weg vom Markt.» «Wie? Kein Single mehr?» «Nein, er hat jetzt einen Dachdecker – und wenn Du mich fragst, solltest Du dabei das Wort `Decker` besonders betonen.» Er lachte selbst durchs Telefon merklich schmutzig auf. «Mischa, Du zeigst ganz neue Seiten, Tratsch aus Deinem Munde?» «Ich kann das – bei Bedarf. Also gedecktes Dach oder gedeckter Mann hin oder her – Du kommst also?» «Ja, nochmal, sogar gerne, nach der Information nicht mehr ganz so gerne, aber immer noch gerne.» «Prima. Vermutlich kommt Sarah auch, wir haben seit kurzem endlich auch eine Frau dabei. Hat lange genug gedauert.» «Sieh an, Sarah. Glückwunsch! Das wird Natascha freuen, mich sowieso, dann gibt’s da auch mal Fortschritt. Eine aus Klaie?» «Nein, nicht direkt, ist vor einem halben Jahr hierhergezogen. Eine echte Politaktivistin, die tut der Gruppe richtig gut und bringt demnächst wohl noch ein paar Freundinnen mit.» «Also, wann und wo seh ich Euch dann?» «Wir tagen in dem renovierten Schuppen bei der Hauptsynagoge, einfach durch den kleinen Park gehen, siehst Du von der Strasse nicht, kannst Du aber nicht verfehlen. Achtzehn Uhr dreissig geht’s los, wäre schön, könntest Du bereits ab sechs da sein, wir machen immer einen kleinen Umtrunk vorneweg – allerdings alkoholfrei, dafür meist mit was Selbstgebackenem.» Mir lief das Wasser im Mund zusammen. «Das klingt grossartig, soll ich auch was mitbringen?» «Nein, Danke, es hat eh meist zuviel. Danke schonmal Ritchie fürs Kommen und bis später dann, ich muss weiter.» «Bis später Mischa, danke für die Einladung.»

Ich hatte den Hörer gerade aufgelegt, da tönte schon Natascha: «So, die Beschnittenen lernen nun auch den Uterus kennen?» «Pfui, Natascha, wie bist Du denn drauf? Und ja, die queeren Juden sind ab sofort die queeren Jüdinnen und Juden, sag das deinen Frauen.» «Ey, ey Käptn. Und Du gehst da heute hin?» «Ja Natascha, ist das in Ordnung für Dich?» «Voll. Ich frag das nur, weil der Koller sollte sich heute nochmal melden zum aktuellen Ermittlungsstand, dann geb ich ihn Dir gleich weiter, sobald er anruft. Dann kannst Du ihn vielleicht noch das eine oder andere zusätzlich fragen.» «Gute Idee Natascha, Danke.» Und wieder verschwand sie hinter ihrem Bildschirm und ich versuchte nochmals Thomas zu erreichen. Aber wieder nur der Beantworter, doch diesmal hinterliess ich eine Sprachnachricht: «Hallo mein vermisster Thomas. Ich habe gerade noch einen Abendtermin reinbekommen, wird wohl so neun, halb zehn werden, danach komme ich gerne zu Dir, wenn Dir das recht ist? Ruf mich doch bitte an, wenn Du wieder frei bist. Kuss, Kuss, Kuss.»

Der Vormittag verlief ansonsten ereignislos und da Natascha ihre Arbeit nicht zu lange unterbrechen wollte, liessen wir uns Pizza liefern und assen diese schweigend jeder vor seinem Rechner. Ich hatte gerade den letzten Bissen runtergeschluckt, da meldete sich der Herr Polizeipräsident, diesmal direkt auf meinem Telefon, er nutzte nicht einmal die Dienstnummer. «Guten Tag Herr Gaffer, Koller hier.» «Guten Tag Herr Polizeipräsident, geht’s gut?» «Ja Danke, Ihnen auch?» «Ja Danke, auch. Was können Sie mir Neues berichten?» «Herr Gaffer, ich sags gleich direkt, wir stecken ein wenig fest. Aber ich kann Ihnen versichern, wir sitzen mit acht Leuten an den Überfällen und drei weitere sind mit den Sprayereien an der Synagoge dran, falls es da überhaupt einen Zusammenhang gibt.» «Falls?» fragte ich erstaunt nach. «Ja, falls. Es ist immerhin nicht die erste in diesem Jahr, nur dass es da diesmal eine zeitliche Koinzidenz gibt.» «Haben Sie denn zu den Sprayereien sonst ein paar Informationen?» «Wieso interessiert Sie das denn?» fragte er mit erstaunter Stimme nach. «Nun, wissen Sie Herr Koller, ich treffe heute die Gruppe queere Jüdinnen und Juden.» Ich war mächtig stolz, dass ich die neue Formulierung schon anwenden konnte: «Und da wäre es hilfreich, wenn ich dort ein paar mehr Details berichten könnte.» «Ah so, nun, Herr Gaffer, so wie wir das sehen und analysieren konnten, und ich meine damit Schrifttyp und – hmmm – lassen Sie mich es mal so sagen – Rechtschreibung, hängen die ersten Fälle und dieser Anschlag nicht miteinander zusammen. Ob es aber die gleichen Täter waren, wie bei den tätlichen Angriffen, wissen wir derzeit noch nicht.» «Und was wissen Sie über die Überfälle auf Schwule vom letzten Wochenende?» «Tja, Herr Gaffer. Wir haben mittlerweile einige Anzeigen bekommen und die betroffenen Personen ausführlich befragt. Da es dunkel war und die meisten Täter Kaputzenjacken trugen, können wir uns auf die Personenbeschreibungen nicht sehr stark stützen, aber es gibt übereinstimmende Aussagen zum Dialekt, den die Täter gesprochen haben und da weisen die Hinweise doch auf Nieder-Bergen hin.» Ich liess einen Pfiff ertönen und versuchte kurz das Gesagte zu sortieren, dann fragte ich sehr direkt nach: «Konnten Sie einen Zusammenhang herstellen zwischen den Tätern, die hier in Klaie die Angriffe verübt haben und den jungen Männern, die in Nieder-Bergen aus der Haft entlassen wurden?» Koller machte eine längere Pause und ich konnte förmlich sein Hirn rattern hören, selbst Natascha bemerkte die Pause und sah mich fragend an und ich antwortete mit einem leichten Achselzucken. «Herr Gaffer», begann er dann sehr zögerlich, «wie kommen Sie zu so einer Vermutung?» lautete dann seine Reaktion. «Herr Koller, wir müssen hier nicht um den heissen Brei herumreden. Wir Queeren in Klaie sind mittlerweile gut vernetzt und können auch das eine oder andere in Erfahrung bringen. Kümmern wir uns also nicht um unsere Quellen, sondern beantworten Sie mir doch freundlicherweise meine Frage, gibt es einen Zusammenhang zwischen den Männern, die aus der Haft entlassen wurden und den Angriffen in Klaie?» Natascha hatte mittlerweile ihre Arbeit unterbrochen und sah mich bewundernd an, ihre Daumen reckte sie nach diesem Einwurf zustimmend in die Höhe. Koller brauchte wieder einiges an Zeit bis er dann antwortete: «Ich habe mit dem zuständigen Staatsanwalt in Nieder-Bergen gesprochen. Er kann derzeit keine Aussage zum Aufenthaltsort der Männer machen, er hat aber Anweisung gegeben, diese ausfindig zu machen. Mehr kann ich derzeit nicht dazu sagen, Herr Gaffer.» «Das ist immerhin ein Anfang. Herr Koller, was werden Sie und Ihr Präsidium denn nun konkret zum Schutz in Klaie unternehmen? Und lassen Sie mich das präzisieren: Was werden sie hinsichtlich der Angriffe auf queere Menschen machen und was hinsichtlich unserer jüdischen Einrichtungen und Menschen?» Natascha reckte erneut die Daumen nach oben und schaukelte mit ihrem Oberkörper hin und her. «Nun, ich habe zusätzliche Streifen für dieses Wochenende einberufen. Sie wissen selbst, dass wir nicht gerade die grösste Personaldecke haben, aber immerhin haben sich einige Mitglieder unseres Polizeikorps freiwillig gemeldet und…» Ich unterbrach ihn und fragte mehr rhetorisch: «Ich nehme an, es sind vor allem die Korpsmitglieder, die auch in der queeren Gruppe organisiert sind?» «Ja, das kann ich so bestätigen», gab er knirschend zu: «Da diese aber nicht ausreichen, sind weitere Streifen verpflichtet worden und wir haben zusätzliche Streifen aus dem Umland angefordert, da am Samstag auch wieder ein Fussballspiel in Klaie stattfindet.» «Brauchen Sie Unterstützung bei der Routenplanung für die Streifen, die zum Schutz unserer Leute abgestellt sind?» «Danke, Nein, wir kennen die Brennpunkte. Und ich wollte noch ergänzen, wir werden ab Freitagabend vier Bedienstete in Zivil zum Schutz jüdischer Einrichtungen abstellen, wir gehen davon aus, dass sich die Täter bei Uniformierten nicht hinreissen lassen.» «Hinreissen?» fragte ich entsetzt und offenbar mit recht schriller Stimme: «Sie nennen das Hinreissen?» «Nun, Entschuldigung, vielleicht nicht der ganz richtige Begriff, aber Sie verstehen doch, was ich meine. Wenn solche Leute Uniform sehen, begehen sie solche Taten nicht.» «Na ich hoffe, solche Wortwahlen bestimmen nicht Ihren Alltag im Präsidium.» Ich konnte mich noch nicht ganz beruhigen und Koller war das offenbar auch recht unangenehm und er versuchte, das Gespräch zu Ende zu bringen. «Nun Herr Gaffer, das sind so die wichtigsten Informationen, die ich Ihnen heute geben kann. Haben Sie noch Informationen für mich oder noch eine Frage?» «Ja, Informationen nicht, aber eine Frage, darf ich über den Inhalt unseres Gesprächs an unsere Mitglieder herantreten?» «Ja sicher. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement und darf Ihnen jetzt noch einen erfolgreichen Tag wünschen.» «Danke, ich Ihnen auch, Herr Koller, auf Wiedersehen.»

Ich legte auf und schaute Natascha an. Die grinste mich breit an und fragte: «Na? Ist das mal ein hilfreicher Herr oder was?» «Mir ist ehrlich gesagt, fast schlecht», antwortete ich. «So zwischen den Zeilen hört sich das recht unmotiviert an, was da im Präsidium passiert. Aber ich hoffe, seine Leute arbeiten besser als er…» «Nun, ich werde jedenfalls nun mal meine Mädels von der Polizei anrufen und sie auch noch instruieren – kann sicher nichts schaden.» «Ja, Danke Natascha, das ist eine prima Idee, magst Du die Männertruppe auch gleich noch informieren? Ich habe genug polizistisch gedacht für heute …» «Ja klar, mach ich, dafür bringst Du dieser Sarah heute mein Willkommenspaket mit.» Mit diesen Worten überreichte sie mir ihr kleines Infomäppchen, in dem sie alle wichtigen Infos für queere Frauen - ob biologisch oder gefühlt – in Klaie zusammengestellt hatte.

Bevor ich mich noch richtig bedanken oder sonst etwas zu ihr sagen konnte, klingelte mein Telefon erneut und der Name auf dem Display versprach willkommene Abwechslung, es war Thomas: «Hallo Thomas» «Na hallo mein Schöner. Sorry, dass ich mich erst jetzt melde, alles klar bei dir?» «Geht so, hatte gerade den Koller am Telefon, das war weniger erfreulich. Aber nun höre ich Dich, und schon geht’s mir wieder gut.» «Du Charmeur, Du. Danke. Wegen heute Abend. Ich hab ja die Teamsitzung heute bei mir, ich hab gerade angefragt, sie haben nichts dagegen, wenn Du dazu kommst.» «Oh, wie nett.» «Nicht zicken Ritchie, Du weisst, wie heikel das Alles ist. Also Du kommst so gegen halb zehn?» «Ja so um den Dreh, mal sehen, wie lange wir zusammensitzen.» «Okay, ich freu mich auf Dich und die Nacht mit Dir.» Jetzt lag wieder sein wunderbarer Charme in der Stimme und ich schmolz dahin. «Und ich mich erst, hab Sehnsucht nach Dir.» «Dito. Kuss Ritchie, bis heute Abend.» Noch ehe ich einen bis drei Küsse zurückgeben konnte, war die Leitung auch schon weg.

Da ich gerade das Telefon in der Hand hatte, rief ich noch Lou an, um Ihr mitzuteilen, dass ich nicht zu Hause sein werde und mit ihr zu klären, ob wir unseren Samstagsbrunch auf Sonntag legen könnten. Tom sollte auf seinem Seminar sein und ich hoffte, die Nacht auf Samstag bei Thomas verbringen zu können und vielleicht wäre da ein frühes Aufstehen nicht angezeigt. Ich erreichte aber nur ihren Beantworter und sprach ihr meine Mitteilungen drauf und dass ich abends bei den queeren Jüdinnen und Juden sei. Danach widmete ich mich wieder meinen Pflichten und hörte, dass Natascha ebenfalls eifrig am Schreiben war, ich liess sie einfach ungestört.

Gegen halb sechs machte ich Schluss. Da sah ich noch auf meinem Telefon, dass Lou sich per Textnachricht gemeldet hat, ihr passe das sehr gut, da sie die Nacht auf Samstag bei Julia verbringen werde, sie sich aber noch um die Einkäufe kümmern werde. `Perfekt`, dachte ich mir und schickte ihr ein grosses Dankeschön mit jeder Menge Smileys zurück. Dann verabschiedete ich mich noch von Natascha, die auch im Aufbruch begriffen war. Das Wetter war angenehm und der Weg zur Hauptsynagoge nicht weit, so dass ich beschloss, nicht zu radeln, sondern das Fahrrad den Weg dorthin zu schieben. Das erwies sich als echter Glücksfall, denn heute schienen Klaies Fitnessstudios Freigang zu haben, so viele Muskelprotze gabs sonst selten zu sehen, auch wenn manche mit eher martialischen Haarschnitten und bösen Tattoos ihren Gesamteindruck nicht zwingend verbesserten.

Kurz vor sechs erreichte ich die Hauptsynagoge und fand gleich in der Nähe eine Abstellbox für mein Fahrrad. Der Weg zum Schuppen in der Gartenanlage der Synagoge war tatsächlich einfach zu finden, drei Männer mit Kippa standen bereits vor dem Eingang und rauchten noch.

«Hallo zusammen», rief ich ihnen zu. Ein zögerliches «Hallo» kam von allen dreien zurück. Einer nahm dann offenbar seinen Mut zusammen und fragte zögerlich: «Du bist Richard, der Schwulenpräsi?» Ich musste lachen: «So ähnlich. Richard Gaffer, der Präsident von Klaqueur, dem queeren Dachverband in Klaie. Aber sagt ruhig Ritchie zu mir.» Ich schüttelte dem Mutigen die Hand: «Hallo, freut mich». «Hallo, ich bin Samuel. Das sind Aaron und Schlomo.» Ich schüttelte auch ihnen die Hand und war beeindruckt von ihrem festen Händedruck. Aaron musterte mich auffällig und dann meinte er: «Gaffer? Von den Felsenrain-Gaffers?» «Nein. Meine Familie hat mit denen nichts zu tun.» «Ah gut», was für eine ungewohnte Reaktion: «Ich kann diesen korrupten Kapitalisten nicht ausstehen.» «Na da bin ich ja mal extra froh, nicht verwandt zu sein.»

«Geh ruhig rein», unterbrach Samuel: «Mischa wartet schon auf Dich.» «Danke, wir sehen uns ja gleich wieder.» Ich überliess sie ihren Zigaretten und ihrem Gespräch und trat in den Schuppen ein. Wobei Schuppen es nicht wirklich traf. Es war ein modern eingerichtetes, ehemaliges Gutshaus, gemütlich mit Holz verkleidet und einer U-förmigen Tischformation. Auf der Längsseite befanden sich noch zwei Türen, die wohl zu den Toiletten und anderen Räumen führte. Das Gebäude wirkte von innen jedenfalls deutlich grösser, als es von aussen den Anschein hatte. Am Rande stand ein weiterer Tisch, der fast überquoll mit Leckereien. Und dann sah ich auch Mischa, der im Gespräch mit einer Frau und zwei weiteren Mitgliedern seiner Gruppe war, diese allerdings ohne Kippa. «Shalom Ritchie, schön, dass Du da bist.» «Hallo Mischa», sagte ich, schüttelte ihm die Hand und ging dann auf die Frau zu: «Du bist Sarah?» fragte ich sie. «Ja. Woher weisst Du?» und nach einer kurzen Pause: «Ach so, Mischa. Der hat das sicher schon herumposaunt, dass die Gruppe jetzt ihre Alibifrau hat.» Sie lachte auf und sie war mir vom Fleck weg sympathisch. Klein, drahtig und wie ich das einschätzte, nicht koscher gekleidet, sondern mit viel Haut zum Anschauen. Und ihre Stimme freundlich und sanft. Die würde gut zu Lou passen, kam mir in den Sinn und ich beantwortete ihre versteckte Frage: «Ja hat er. Aber freut mich wirklich, dass es nun mehr nicht nur Männer sind.» Ich begrüsste noch die zwei anderen, einen Michael und einen Elias. Aber nicht den schönen Elias, auf dessen Wiedersehen ich mich schon so freute.

«Wow», setzte ich im Plauderton fort und zeigte mit dem Finger auf die Leckereien, «wieviel erwartet Ihr denn noch?» «Etwa noch vier bis fünf.», antwortete Mischa: «Und das Buffet haben wir Michaels Mutter zu verdanken. Die hat immer so Sorge um ihren Bubbele.» «Ja, die backt immer wie eine Weltmeisterin, wenn ich hierherkomme, als wenn wir sonst verhungern müssten», ergänzte Michael. Dann klopfte er sich auf den Bauch und sagte schmunzelnd: «Gut, dass sie nicht weiss, dass ich ihre Ernährungssorgen vor allem durch hohen Männerverschleiss ausgleiche.» Ja hier fühlte ich mich wohl und lachte mit den anderen. Wir plauderten noch bis halb sieben über Mütter, Eltern und Verwandte. Michael kam offenbar aus einem sehr liberalen Haushalt, jedenfalls unterstützten ihn seine Eltern bereits bei seinem Coming-Out, Elias dagegen konnte mit seinen Eltern und seiner Verwandtschaft gar nicht darüber reden, was bei einem 25-jährigen natürlich zu einigem Getuschel führte. Vor lauter Geplauder merkte ich gar nicht, wie sich zunehmend der Raum gefüllt hatte, erst als Mischa an die Tischstirn ging und anhub: «Liebe Leute, lasst uns anfangen, setzt Euch bitte.» Ich blickte mich um und erkannte, während sich alle artig setzten, dass wir mittlerweile 15 waren und da war auch der schöne Elias, schöner als je zuvor, das Leben mit seinem Dachdecker bekam ihm offenbar gut. Und jung war diese Truppe, ich machte neben Mischa und mir nur noch einen im gleichen Alter aus, einer war deutlich über sechzig, alle anderen dürften die 30 noch nicht erreicht haben.

«Ich begrüsse Euch sehr herzlich zu unserer Monatssitzung», Mischa schlug einen sehr förmlichen Ton an: «Wir haben heute einen besonderen Gast. Bitte begrüsst Richard Gaffer, den Vorsitzenden von Klaqueur, dem queeren Dachverband in Klaie.» Alle klopften artig auf den Tisch, ich stand auf und sagte nur knapp, aber herzlich: «Vielen Dank für die Einladung und einen schönen guten Abend. Ich bin der Ritchie und freue mich bei Euch zu sein.» «Danke, Ritchie», Mischa übernahm wieder das Wort: «Wir schieben heute die organisatorischen Themen nach hinten, da wir Ritchies Zeit auch nicht überbeanspruchen wollen. Wir Ihr wisst, hat es letztes Wochenende einige Überfälle gegen queere Menschen gegeben und unsere Synagogentür wurde erneut beschmiert.» Es schallte ein lautes «Pfui» aus der Gruppe. «Richie und ich sind im steten Kontakt mit der Polizei und möchten mit Euch zuerst die aktuelle Situation besprechen und vielleicht überlegen, was wir tun können. Und als `wir` meine ich zum einen, wir als Queers und wir als queere Juden.» «Und Jüdinnen», ergänzte Sarah. «Ach ja, Entschuldigung Sarah, Du merkst, ich bin noch in meinem alten Trott nur unter Männern.» Er grinste breit. Da klirrte eine Scheibe und ein schwerer Stein lag mitten im U der Tische.

Da schallte es von draussen «Arschfickör platt machön. Arschfickör platt machön. Juda vörröckö.» Nach einem Moment des Schreckens eilte ich zum gebrochenen Fenster und sah, bevor ich mich Schutz suchend an die Wand neben dem Fenster stellte, dass sich draussen rund 20 Männer versammelt hatten, die offenbar genau wussten, wer sich hier versammelt hatte. Einige, so sah ich auf die Schnelle, waren mit Steinen bewaffnet und jemand hatte etwas Brennendes in der Hand. Während sie weiter ihre Schlachtrufe riefen, zerstörte ein weiterer Stein das Fenster daneben und landete mit grossem Getöse auf dem Holzboden des Versammlungsraumes.

Ich traute mich wieder nach draussen zu schauen, sie waren etwa zehn Meter vom Gebäude entfernt und einige davon erkannte ich als die Muskelprotze, die mir vorhin noch so heiss vorgekommen waren. Offenbar hatten sie sich unmerklich in der Nähe lose versammelt und waren nun bereit, uns hier aufzumischen. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihre Gesichter zu vermummen, sondern standen da, einige mit kahlgeschorenem Kopf, in T-Shirts, manche aber auch in schwarzen Jacken. Noch hielten sie Abstand zum Gebäude, aber die Steinwürfe wurden intensiver. Zum Glück waren sie keine guten Werfer, so dass nur ein weiterer Stein ins Haus fiel, die anderen schlugen an die Mauer, was einen unangenehmen Klang ergab. Ich versuchte mir ihre Gesichter zu merken. Nach einer Weile sah ich wieder in den Raum selber und war mächtig erstaunt. Während ich nach draussen geschaut hatte, hatte die Gruppe die Tische so gekippt und gestellt, dass sie eine Art Tischmauer und Dach bildeten. Die Eingangstür war zusätzlich mit einem Tisch blockiert worden. Offenbar sassen alle unter den Tischen. Mir schoss durch den Kopf, dass sie alle so etwas nicht zum ersten Mal erlebten, so schnell und professionell, wie sie das gemacht hatten. Eine der beiden Türe sah ich offen stehen und kurz darauf kam Sarah von dort mit einem Feuerlöscher zurück in den Raum und war dann auch unter den Tischen verschwunden. Ich traute mich nicht, ebenfalls dahin zu kommen, denn da hätte ich mich am Fenster vorbei bewegen müssen, so stand ich starr und blickte nur mit dem Kopf gebeugt weiter nach draussen.

Trotz des weiter anhalten Geschreis des Mobs da draussen, hörte ich Mischas Stimme von unter den Tischen, er war offenbar mit der Polizei und da mit Koller selber verbunden. «Kommen Sie rasch, die queere Judengruppe wird gerade bei der Hauptsynagoge im Nebengebäude im Park angegriffen. Schicken Sie ihre Leute, es sind … Richie», rief er auf einmal, «wieviele sind es?» «Mindestens 20» «Es sind 20 Leute. Sie werfen mit Steinen.» In diesem Moment flog ein Brandkörper in den Raum und explodierte mit einem lauten Knall. Sarah verliess ihr Versteck und löschte den Brandkörper sofort. Dabei wäre sie beinahe von einem hereinfliegenden Stein getroffen worden. Kaum war der Brandkörper gelöscht, war sie mit dem Löscher ebenfalls wieder unter den Tischen verschwunden. Der schöne Elias nutzte den Moment und rannte zur Tür raus, die Sarah offen gelassen hatte. Ich hörte Mischa: «Und jetzt auch mit Brandsätzen, bitte machen Sie rasch, es eilt.» Der Steinhagel setzte sich fort, doch die Meute kam weiter noch nicht näher. Offenbar wussten sie nicht, ob vielleicht jemand von uns bewaffnet wäre. Da fing auf einmal eine Feuersirene zu heulen auf, Elias kam kurz danach zurück: «Ich hab den Feueralarm ausgelöst», rief er und war dann auch wieder unter den Tischen.

Das Heulen der Sirenen schreckte aber die Meute nicht ab, obwohl das Geräusch schrill und durchdringend war und sicherlich kilometerweit hörbar. «Arschfickör platt machön, Juda vörröckö», gröhlten sie weiter. Immer wieder landeten Steine im Raum, manche trafen die Tischburg, andere landeten laut polternd auf dem Boden. Unter den Tischen hörte ich den einen oder anderen noch telefonieren, es klang fast wie Abschiedsgrüsse.

Nach etwa weiteren fünf Minuten konnten wir aus der Ferne die Polizeisirenen und dann auch diejenigen der Feuerwehr hören. Das zeigte endlich Wirkung. Ich konnte gerade noch sehen, wie die Angreifer sich ohne grosses Rennen davon machten, sie wollten wohl nicht ausser Atem geraten, falls sie die Polizei aufgreifen sollte. «Sie verziehen sich», rief ich den Verängstigten unter den Tischen zu und langsam kam einer nach dem anderen hervor und schaute aus den Fenstern oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Von den Angreifern war aber bereits nichts mehr zu sehen. Dann verstummten die Polizeisirenen und wir sahen die ersten Polizistinnen in Richtung Schuppen kommen. Kurz danach verstummten auch die Feuerwehrsirenen, sie waren nun wohl auch angekommen.

Die ersten Polizistinnen waren nun an der Eingangstür und klopften: «Bitte machen Sie auf, hier ist die Polizei». Wir sahen uns an und bemerkten, wie wir fast alle zitterten. Nach der Anspannung war der Moment doch skurill und wir blickten uns unschlüssig an, bis endlich jemand den Tisch von der Tür entfernte und die Polizistinnen einliess. Ich blickte wieder nach draussen und sah Koller daherkommen. Ich musste dreimal schauen, er hatte seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, gut zehn Kilo abgenommen und sah in seinem blauen Anzug mit Gillet richtiggehend fesch aus. Er kam mit grossen Schritten aufs Gebäude zu und stand dann im Raum: «Guten Abend, ist jemand verletzt?» rief er. «Nein, soweit keine Person», antwortete Mischa: «Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, das war wirklich brenzlig.» «Nun, dafür sind wir da», beschied ihm der Herr Polizeipräsident knapp: «Das sieht ja fürchterlich aus», er blickte sich um und sah die Tischburg: «Ich sehe aber, sie waren geistesgegenwärtig und haben sich hier mit den Tischen schützen können.» Ein grosses Nicken quittierte seine Worte. Einige nahmen nun wieder ihr Telefon in die Hand und gaben ihren Liebsten Entwarnung.

«Ich muss Sie bitten, noch einen Moment hier zu bleiben und meinen Kolleginnen und Kollegen Auskunft zu geben, wir möchten die Täter so rasch wie möglich fassen, einige Streifen sind bereits unterwegs und warten auf sachdienliche Hinweise.» Dann entdeckte er den Tisch mit den Speisen und ergänzte: «Sie haben ja glücklicherweise etwas zur Stärkung hier, falls es länger dauern sollte.» Ich mischte mich ein und sagte zu Koller: «Ich kann Ihnen wohl am besten weiter helfen, ich stand während der Attacke hier am Fenster und habe mir die Gesichter gut eingeprägt.» «Gut, Herr Gaffer, der Kollege Meyer hat nun das Kommando und wird dann gleich jemanden schicken, der sich mit ihren Aussagen beschäftigen wird. Die anderen werden durch weitere Kolleginnen und Kollegen befragt. Bitte geben Sie alle Informationen, die Ihnen einfallen weiter, kein Hinweis ist unbedeutend.» Mit diesen Worten verabschiedete sich der Polizeipräsident und überliess das Feld seinen Untergebenen.

Mittlerweile füllte sich der Raum. Freundinnen und Angehörige der jüdischen Gruppe trafen ein und immer mehr Polizistinnen, die die Beteiligten befragten. Auch der Rabbiner war schon da und bot seelsorgerische Hilfe an, selbst der polizeipsychologische Dienst war zur Stelle und sprach sanft mit den meist immer noch unter Schock stehenden. In all dem Durcheinander von Polizistinnen, Freundinnen, Amtspersonen und verschreckten Menschen hörte ich auf einmal eine Frauenstimme: «Herr Gaffer? Herr Gaffer zu mir bitte.» Ich sah mich um, konnte aber nicht erkennen, wer das gerufen hatte. Dann nochmals: «Herr Richard Gaffer, hier zu mir bitte.» Da sah und erkannte ich die Ruferin, es war Elisabeth, eine von Lous Haremsdamen, die vor ein paar Jahren regelmässig bei ihr war. Sie stand da in zivil und winkte. Ich ging zu ihr: «Hallo Elisabeth, was für eine Überraschung. Lange nicht mehr gesehen. Was machst Du in zivil hier?» «Ritchie?» Sie sah mich überrascht an. «Du heisst Gaffer mit Nachnamen? Bist Du einer von den Felsenrain-Gaffer?» «Nicht Du auch noch», stöhnte ich auf. Ihr Blick war noch erstaunter. «Nein, ich bin kein Felsenrain-Gaffer. Ich kann die Frage einfach nicht mehr hören.» «Ach so, entschuldige. Ist ja wahrlich eine Ewigkeit her. Ich gehöre zur Sonderstreife für die jüdischen Einrichtungen.» Nun sah ich sie erstaunt an. «Aber Koller hat doch gesagt, dass er erst ab morgen eine losschicken will?» «Ja, das ist die offizielle Meldung. Wir sind aber bereits seit Sonntag auf Tour. Was Antisemitismus angeht, da ist Koller auf Zack. Er wollte nur nicht, dass sich mögliche Täter zu früh zurückziehen. Leider beginnt unsere Tour erst ab 19 Uhr, deswegen waren wir nicht vor Ort, um Euch früher zu helfen.» Ich sah sie ungläubig an und der Mund stand mir offen. «Mund zu Ritchie. Nach aussen mag der Chef vielleicht lahm wirken, aber bei so etwas kennt er keinen Pardon.» Sie machte eine Pause, lächelte mich an und ergänzte: «Jetzt aber wirklich Mund zu. Und erzähl mir alles, was Du gesehen hast. Ich hab nachher noch einige Fahndungsfotos für Dich, schicke Männer, aber gefährlich.» Ihre unkomplizierte, freche Art war richtig Balsam und genau das, was ich jetzt brauchte. Ich wollte gerade mit ihr zu einem der wieder aufrecht stehenden Tische gehen und meine Beobachtungen erzählen, da rief Thomas an. «Sorry, Elisabeth, das ist mein Schatz, ich bin gleich für Dich da.» «Ist schon okay, ich warte da drüben.» «Meine Güte Ritchie, geht es Dir gut?» war das erste, was ich von Thomas hörte. «Ja Danke, ist noch mal glimpflich ausgegangen.» Ich schluckte kurz leer, spürte Tränen hochsteigen und stammelte daher nur: «Aber, aber, woher weisst Du?» «Ach Ritchie, mein Lieber, wir haben hier Polizeifunk und mitbekommen, was da geschehen ist. Ist Dir auch wirklich nichts passiert?» Seine Stimme tat mir richtig gut und seine Fürsorge erst recht. «Ja Danke, nichts, keine Schramme, aber psychisch, ich weiss nicht.» Ich versuchte mein Weinen zu unterdrücken, aber es brach einfach raus und ich hörte Thomas nur beruhigendes sagen, aber keine Details. Als ich halbwegs wieder sprechen konnte, sagte ich zu ihm: «Du Thomas, die wollen jetzt hier noch ihre Befragung durchführen. Darf ich dann einfach los und zu Dir kommen?» «Aber sicher Ritchie. Ich werde allerdings nicht alleine sein, die ganze Truppe ist da und wartet auf Deinen Livebericht, vielleicht hilft es uns, ein paar Puzzleteile zusammen zu setzen.» Ich hörte ihn seufzen. «Ach was red ich denn da. Das ist jetzt wirklich nicht wichtig. Ich bin so erleichtert, dass es Dir gut geht. Ich hatte grosse Sorgen. Ritchie, ich hatte richtig Angst um Dich.» Schluchzend bedankte ich mich und sagte nur: «Nimm mich bitte nachher ganz fest in Deine Arme, ich hab so Sehnsucht nach Dir und deiner Geborgenheit.» Er lachte erleichtert auf und versprach, genau das zu tun und mich bei Bedarf den ganzen Abend dann nicht mehr aus den Armen zu lassen. Nun konnte ich auch wieder lachen und dankte ihm, küsste ihn durchs Telefon und verabschiedete mich bis später.

Ich hielt Ausschau, wo Elisabeth nun war und dabei bemerkte ich, wie Mischa in einer Ecke des Raums kauernd sass und bitterlich weinte und zitterte. Ich winkte Elisabeth, die gerade in meine Richtung schaute und wollte zu ihm hin, da war der schöne Elias schon zur Stelle, setzte sich zu ihm auf den Boden und hielt ihn ganz fest. So ging ich dann zur Polizistin in zivil und berichtete ihr, was ich gesehen hatte. Sie liess mich auch einfach drauf losreden und stellte nur ab und an eine gezielte Frage. Danach packte sie ihr Tablet aus und zeigte mir einige Personen. Drei konnte ich eindeutig wiedererkennen, die anderen waren mir unbekannt. «Danke, Ritchie, das wird uns sicher weiterhelfen. Du hast eine gute Beobachtungsgabe.» «Ich heisse nicht umsonst Gaffer», versuchte ich mich in einem Scherz, aber der zündete weder bei ihr noch bei mir selbst.

Inzwischen hatte sich das Durcheinander wieder gelegt und auch Mischa war wieder auf den Beinen. Als er sah, dass ich wohl fertig mit der Befragung war, kam er auf mich zu. «Was für eine Scheisse», kam es knapp aus ihm raus und ich spürte seine innere Unruhe in jeder Silbe. «Das kannst Du laut sagen, Mischa.» Ich machte eine hilflose Geste und schob dann nach: «Mir geht die ganze Zeit nicht aus dem Kopf, wie Ihr Juden damit umgeht.» «Ritchie, wir Juden gehen damit nicht um, es trifft uns halt bloss immer wieder. Hast Du gewusst, dass unsere Synagoge nach dem Pogrom von 1822 für fast 80 Jahre eine Verkaufshalle für Getreide war? Der Schuppen hier war das Lager, nachdem es eigentlich eine Thoraschule beherbergt hatte.» Offenbar tat es ihm gut, einfach zu reden und so liess ich ihn mir die Geschichte des Gebäudes erzählen und merkte, wie er zunehmend in seiner Stimme wieder Tritt fasste. «Nun aber genug von alten Geschichten. Ich glaube, die Polizei ist so langsam fertig. Wenn Du gehen willst, Ritchie, nur zu.» «Danke Mischa, aber ich bleibe noch einen Moment und schau, wie es den anderen, die noch da sind, so geht.» Wir waren mittlerweile nur noch vier, die den Abend live miterlebt hatten, einige Polizistinnen standen noch rum und ergänzten ihre Notizen und auch ein Trupp Fenstermacher mit Kippa ersetzte bereits die zerbrochenen Fenster. Mischa bemerkte, wie ich darüber erstaunte: «Ja Ritchie, wir sind da gut organisiert. Unsere Fenstermacher haben 24 Stunden Dienst.» «Ach Mischa, ich bin jetzt zu erschöpft, um das klar zu überdenken, aber wir müssen uns bald dringend zusammensetzen, am besten mit wichtigen Leuten aus der Stadtverwaltung und schauen, was wir da organisieren. Das ist doch nicht mehr unser Klaie.» Mischa nickte müde, umarmte mich und ich ihn. Dann sassen der Rest von uns noch ein paar Minuten zusammen und sahen uns eigentlich nur seufzend an, bevor dann jeder seines Weges ging, nicht ohne dass wir uns alle noch einmal fest in die Arme genommen hatten.

 

 

 

10 Linien

 

Ich machte mich auf den Weg zu meinem Fahrrad und schaute mal auf meine Uhr, es war viertel vor neun, ich hatte völlig mein Zeitgefühl verloren und hätte auf zehn getippt. Ich wollte gerade das Telefon wieder einstecken, da rief Lou an: «Hallo Lou», sagte ich nur knapp. «Mensch Ritchie, bin ich erleichtert, Dich zu hören. Geht es Dir gut? Ich habe gerade auf Radio Klaie gehört, was passiert ist.» «Ja Danke, bin etwas verstört, aber körperlich kein Schaden.» «Ah da bin ich erleichtert, das klang gerade sehr dramatisch. Koller wurde auch interviewt, er schien sehr besorgt zu sein und versprach mit unbarmherziger Härte vorgehen zu wollen.» «Na das will ich ihm auch geraten habe. Du, Lou, ich mach mich jetzt auf zu Thomas, der sitzt mit seinen Antifa-Leuten bei sich zu Hause und wartet auch auf einen Bericht, kann ich Dir morgen alles in Ruhe erzählen?» «Ja sicher Ritchie, Hauptsache, ich weiss jetzt, dass es Dir gut geht. Mach es gut und grüss mir Thomas.» «Danke Lou, und Du mach Dir einen angenehmen Abend:» «Danke Ritchie.» Dann legte ich auf und schwang mich aufs Rad, die wenigen Minuten bis zu Thomas Wohnung taten mir sichtlich gut. Und es ging mir schon wieder deutlich besser, als ich die Klingel zu seiner Wohnung betätigte. Die Tür öffnete sich rasch und ich sprang die Treppen mit Elan nach oben. In der Tür stand schon Thomas mit weit ausgebreiteten Armen, er trug ein weisses T-Shirt über seinen Bluejeans und sah zwar besorgt, aber dennoch so attraktiv aus, dass es mir gleich noch ein Stück besser ging. Unsere Umarmung dauerte auch gefühlte zehn Minuten. «Komm doch rein, willst Du etwas trinken?» «Ein Whisky käme jetzt gut.» «Dachte ich mir schon, steht schon parat. Ich stelle Dir gerade die anderen noch kurz vor.» Ich betrat seine Wohnküche, die aussah, wie ich es nur aus Krimis kannte. Eine grosse Tafel stand mitten im Raum, darauf viele Personenbilder und jede Menge Linien. Ich erkannte auf den ersten Blick den alten Gaffer, sehr zentral in der Mitte, Koller war zu erkennen, die Baumann, am Rande sogar Mischa. Ich machte wohl dadurch einen sehr fragenden Blick, da meinte Thomas: «Die Tafel erklär ich Dir schon noch. Hier, das sind Heinz, Jochen, Sabrina und Janosch. Ich schüttelte allen brav die Hand. Stefan war auch da, er sass etwas abseits und winkte nur müde rüber. Janosch sah wie der typische Computernerd aus, knapp 30, noch leicht pickelig, blass, nicht ganz schlank und mit einer dicken Brille. Manche Klischees starben also wirklich nicht aus. «Danke, dass ich da sein darf», brachte ich nach der Begrüssung noch so raus. Sabrina nahm als erste das Wort auf, während mir Thomas ein grosses Glas Whisky eingoss. «Hey Ritchie, schöne Scheisse, was da passiert ist. Wie es heisst, waren das Typen aus Nieder-Bergen?» Die sind ja wirklich gut informiert, schoss es mir durch den Kopf. «So klangen sie zumindest, ihren Schlachtruf `Arschficker platt machen` und `Juda verrecke` sprachen sie jedenfalls so aus.» «Du meinst `Arschfickör platt machön`, `Juda vörröckö`?» machte Stefan in seinem gewohnten Slang nach. «Ja genau, Stefan, so klang das, und das wiederholten sie die ganze Zeit.» «Also tatsächlich Nieder-Bergen», murmelte Janosch vor sich hin und widmete sich dann wieder seinem Telefon.

«Aber erzähl doch der Reihe nach, Ritchie», sagte Thomas und reichte mir das Glas, von dem ich gleich einen kräftigen Schluck nahm, «wir sind sehr gespannt.»

Und so begann ich von Anfang an zu erzählen. Vom Eintreffen an der Synagoge, den Muskelprotzen davor und der ganzen wüsten Angriffsszenerie. Bis hin zum Eintreffen der Polizei, Kollers Kurzdebüt und der Befragung durch seine Bediensteten. Die Gruppe hörte schweigend zu, ab und an sah ich ein Nicken und Thomas besorgtes Gesicht. Ich nahm noch einen Schluck und beendete meinen Bericht mit: «Und dann hab ich mich aufs Fahrrad gesetzt und bin zu Euch gefahren.» Nach einer kurzen Stille klatschten sie alle in die Hände, Thomas stand auf und umarmte mich von hinten ganz fest und flüsterte mir ins Ohr: «Oh mein Ritchie, gut, dass weiter nichts passiert ist. Ich möchte Dich nicht mehr missen.» Mir flossen schweigend Tränen und ich hielt seine starken Arme ganz fest.

«Tütö?» unterbrach Stefan diesen intimen Moment, «ich glaub, Du hast Dir jötzt einö vördient, bövor ös noch ein paar spannöndö Informationön möhr gibt», er lachte auf und auch die Gruppe lachte mit – es wirkte wie ein kleiner Befreiungsschlag. «Ich glaubö Thomas kann unsörö Örgöbnissö am böstön zusammönfassön?» Er machte eine einladende Handbewegung zu ihm hin und Thomas liess mich wieder los und ging zur Tafel. Nun betrachtete ich mir erst mal die ganze Truppe, jetzt erst fielen mir Sabrinas orange-blauen Haare auf, Janosch und seine kurz vor dem Auseinanderfallen befindlichen Klamotten, und die zwei völlig unscheinbaren grauen Mäuse Heinz und Jochen. Nie hätte ich gedacht, dass solche Gestalten in der Antifa aktiv sein könnten. Ich hatte zwar immer wieder von den Aktionen dieser Gruppe in Klaie gehört, aber auf einmal so unmittelbar mit ihnen konfrontiert zu sein, lösten Ehrfurcht und auch ein wenig Enttäuschung ob der Normalität aus. Der erste Zug an der Tüte tat dann aber wohl und ich gab sie weiter an Sabrina.

«Leute, ich glaube es ist ohnehin gut, den heutigen Abend und unsere Ergebnisse nochmal konzentriert zusammen zu fassen. Zum einen bringen wir Ritchie auf den aktuellen Stand und für uns ist es vielleicht auch noch mal eine Gelegenheit, das eine oder andere klarer und schärfer zu sehen.» Grosses Nicken aus der Runde. «Wir ergänzen Dich bei Bedarf», es war Heinz, der das sagte, und mir fiel sofort seine angenehm bassige Stimme auf, die irgendwie nicht so zu seinem Graue-Maus-Image passte.

«Also – der ganze Klaiener Sumpf wird dominiert von Friedrich Gaffer», Thomas zeigt auf die Mitte der Tafel, wo das Konterfei des Alten deutlich erkennbar war und von dem jede Menge Linien wegführten. «Er hat die Stadt seit Jahren im Griff, er finanziert die Rechten», er zeigte auf einen Herrn, der meiner Erinnerung nach der langjährige Fraktionsvorsitzende der Rechten war und ist, «und immer wieder auch die Faschisten. Wir dachten immer, das macht er aus politischen Gründen, aber seit seiner Hochzeit mit Ruth Rosenzweig», er zeigt wieder auf ein anderes Bild und ich konnte die neue Frau an Gaffers Seite dank meines regelmässigen Konsums von Klatschspalten sofort identifizieren, «wissen wir, das war weniger ein politisches Geschäft, er hat damit seine wirtschaftlichen Geschäfte abgesichert. Denn solange die Klaiener Linke mit der Abwehr der Faschos beschäftigt war, konnte er seine Bauprojekte und Korruptionen leichter durchbringen.» «Naja, Thomas», Sabrina unterbrach ihn, «er steht schon auch politisch eher bei denen, nicht nur aus ökonomischen Zwängen.» «Richtig, Danke Sabrina, also Korruption und Gesinnung. Aber soweit noch nicht viel Neues für uns. Dank der Auswertung der Fascho-Rechner kommen jetzt aber ein paar neue Details zusammen.» Er zeigte auf das Bild von Koller, neben dem ein Ausrufe- und ein Fragezeichen in Rot dazugesetzt worden waren. Von Koller verwies wiederum ein Pfeil zu einer anderen Person, jetzt erkannte ich auch eine Trennungslinie und sah, dass die Schautafel einen Teil Klaie hatte und einen Teil Nieder-Bergen. «Der gute Koller. Wir alle ahnten, dass mit dem was nicht stimmt. Zu unpräzise ist sein Handeln, zu wenig erkennbar seine Strategie. So wie sich das Bild jetzt ergibt, sind alle unsere Überlegungen, ob er schwul sei oder Rache an den Leuten in Sankt Emmeran üben wolle, absolut irreführend und bestimmen nicht sein Handeln. Vielmehr ist Kollers Bruder der Attentäter von Nieder-Bergen aus den frühen Achtzigern, dessen Opfer Mischa und Stefans Familie nun alle in Klaie gelandet sind.» Mir fiel mein Whiskyglas zu Boden, zum Glück war es leer. «Wie bitte? Koller ist verwandt mit dem Attentäter?» «Ruhig Ritchie, ganz ruhig, ös wird noch bössör.» Stefan lachte auf und beeilte sich, mein Glas aufzuheben und neu zu füllen: «Du brauchst sichör noch was?» schmunzelte er mich an. «Ja, Danke.» «Was Stefan andeute», nahm Thomas seine Zusammenfassung wieder auf, «wir wissen nicht nur, dass Kollers Bruder der Attentäter ist, der Staatsanwalt aus Nieder-Bergen war damals der Kopf der Gruppe, die das Attentat geplant hatte.» Mir blieb der Mund offen. «Und was wir auch wissen, Gaffer wusste das vom Koller, deswegen hat er sich seinerzeit so stark dafür gemacht, dass Koller Polizeipräsident wurde. Und in der Legislatur, als die Rechten die Mehrheit hatten…», «Die hoffentlich erste und letzte», liess Janosch von sich geben, der sonst den Blick nicht von seinem Telefon nahm. «… kam Koller wohl gut an und er bekam das Amt. Gaffer hatte und hat mit seinem Familienwissen den Herrn Polizeipräsidenten gut im Griff. Deswegen hat dieser sich nie wirklich engagiert um die rechte und faschistische Szene gekümmert, sondern immer nur halbherzig.» Mir fehlte bei seinen Worten etwas, deswegen fragte ich: «Bis?» «Bis Kollers Bruder, der im Untergrund lebte, bei einem Tankstellenraub den Pächter erschoss, gefasst wurde und dann in der Untersuchungshaft Suizid beging.» «Wenn es denn Suizid war», warf der sonst so stille Jochen ein. «Da sind wir uns eben nicht so sicher, Jochen hat aber einige Drähte zu den Strafanstalten, auch in Nieder-Bergen, wo das passiert ist, und ist fest davon überzeugt, dass Koller nicht aus eigenem Antrieb zu Tode kam», ergänzte Thomas. «Na schöner Suizid, ohne Abschiedsbrief und aufgehängt mit einem Gürtel. Wenn ihm der nicht abgenommen wurde, muss ihn jemand zu ihm gebracht haben oder eben …» Jochen war in seinem Element, liess den Satz aber offen im Raum stehen.

Ich nutzte die Pause und brachte mein neu erworbenes Wissen vom heutigen Abend ein: «Vorhin bei der Synagoge war eine Polizistin da, die kenne ich von meiner Mitbewohnerin Lou, eine gewisse Elisabeth.» Die Gruppe schaute gebannt auf mich. «Die hat vorhin erzählt, dass der Koller beim Thema Antisemitismus auch auf Zack sei, ich glaub das waren so in etwa ihre Worte. Er hat sogar die Öffentlichkeit falsch informiert, ab wann die Streifen bei jüdischen Einrichtungen eingesetzt werden, um da mögliche Täter nicht abzuhalten.» Thomas pfiff durch die Zähne. «Ja, Koller ist für uns nicht der schlechteste Polizeipräsident, so wie er manches aus den rechten Kreisen deckt, geht er auch nicht gegen die Antifa vor. Es könnte sein, dass unsere Arbeit gegen Antisemitismus ihn da manchmal die Augen zudrücken lässt.» «Oder», Sabrina übernahm wieder das Wort, «oder es passt ihm gut in den Kram, dass wir uns mit den Faschos kloppen, so braucht er das nicht mit seinen Staatsterroristen machen.» «Oder das.» Thomas nickte ihr zustimmend zu. «Auf jeden Fall werden unsererseits keine belastenden Details über Koller in die Öffentlichkeit gegeben, solang er sich so verhält, wie er sich verhält.» Mir wurde bei Thomas Worten fast ein wenig schwummrig, das hier war kein Theater, das war handfeste Politik in meiner Heimatstadt und hier wurden förmlich taktische Überlegungen mit Wirkung angestellt. Recht wohl war mir der Gedanke nicht, da jetzt eingeweiht zu sein. Und auch die Wortwahl traf nicht unbedingt meinen Geschmack.

«Und wir wissen auch nicht genau, wie Koller und der Staatsanwalt aus Nieder-Bergen genau zusammenhängen, wissen die jeweils voneinander?» Janosch war wieder dran: «Zumindest muss der Fascho das mit Kollers Bruder wissen, ob Koller auch über den Fascho Bescheid weiss – hmmmm.» «Jedenfalls hat er mit der Freilassung der Bande den Koller arg verärgert, oder besser gesagt, dass sich seine Jungs in Klaie austoben» Heinz sagte das und offenbar war die Gruppe jetzt wieder da, wo sie vor meinem Eintreffen war. «Und das verärgert auch die hiesigen Faschos, die haben offenbar im Moment strenge Order, sich nicht oder allenfalls nur mal ab und an, an jüdischen Einrichtungen zu vergreifen» Sabrina war nun wieder dran.

«Jedenfalls», Thomas übernahm das Ruder, «fest steht, Dreh- und Angelpunkte sind das 1982-er Attentat in Nieder-Bergen, die Freilassung der Fascho-Jungs in Nieder-Bergen und Gaffers Ehe mit Ruth.» Er sah meinen ratlosen Blick: «Ritchie, seither ist der Geldhahn für die Faschos in Klaie durch die Gaffer-Group so gut wie versiegt. Und dann kommen auch noch die aus den niederen Bergen, das macht sie nicht fröhlich», er wandte sich damit direkt an mich, um dann wieder zur Gruppe zu sagen: «Wenn ich den heutigen Abend richtig sehe, wissen wir zwar einiges mehr, aber konkret Handeln wollen wir nicht?» Alle nickten bis auf Janosch, der tatsächlich sein Telefon zur Seite legte und sagte: «Ihr wollt nicht handeln. Ich wiederhole meinen Vorschlag von vorhin, dass wir eine Aktion in Nieder-Bergen durchführen sollten, damit die mal abgelenkt werden.» «Ja, Janosch, wir haben Dich vorhin schon gehört. Lass mich doch morgen noch meine Recherchen vor Ort abschliessen, bevor wir hier konkretes planen» Das war Thomas und wieder nickten die anderen zustimmend. «Aber ich halte fest, dass Aktionen da drüben von uns grundsätzlich mal gutgeheissen werden?» Wieder zustimmendes Nicken. «Hast Du noch Fragen, Ritchie?» Thomas Frage kam überraschend und ich brauchte einen Moment, dann fiel mir aber doch ein: «Was soll gegen die homophobe Gewalt gemacht werden? Habt Ihr eine Idee? Es sind schon die ersten Feste abgesagt worden, es herrscht eine beklemmende Angst bei manchen Gruppen.» Es entstand eine lange Pause. «Öhrlich gösagt, nö, Ritchie», Stefan sprach auch mal wieder, «aussör unsörör Wiebkö beim Polizeifunk, die uns auf döm Lauföndön hält, ist nichts konkrötös göplant.» «Wir müssen also auf Koller und seine Leute vertrauen?» fragte ich nach. «Im Moment ja, leider. Ihr habt doch Eure Leute gewarnt?» «Ja, Thomas, das ist schon am Montag passiert, die informieren wiederum jeden, den sie erreichen können. Vielleicht ist das wirklich im Moment alles, was wir tun können.» «Sorry, Ritchie, aber selbst bei unseren Leuten gibt’s welche, denen Eure queeren Probleme buchstäblich am Arsch vorbei gehen, da müssten wir vielleicht doch noch mal was tun?» Janosch sagte das und brachte etwas Betroffenheit in die Gesichter der Truppe.

Das schien aber auch der Schlusspunkt des Abends gewesen zu sein, jedenfalls baute die Truppe nach einer kurzen Pause alle Aufbauten ordentlich zusammen und verstauten sie in einem grossen Metallschrank, der sorgfältig abgeschlossen wurde und danach in der Wand verschwand. Dann wurde ein anderer Schrank davorgeschoben, so dass die Wand ihr Geheimnis nicht preisgab.

Danach verabschiedeten sich alle kurz und rasch, so dass Thomas und ich übrigblieben. Stefan hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu fragen, ob wir gemeinsam nach Hause wollten. Ihm war    wohl klar, dass ich die Nacht bei Thomas verbringen würde. Ich blickte mal wieder auf die Uhr, es war auch schon halb zwölf. Thomas füllte nochmal unsere Gläser mit Whisky und wir setzen uns an den Tisch gegenüber und sassen eine gute Weile still da, unsere Hände sanft streichelnd, Joint und Whisky geniessend und uns einfach darüber freuen, dass wir wohlbehalten zusammen waren.

 

 

 

11 Freitag

 

Als um halb sieben der Wecker losging, lag ich eng an Thomas angekuschelt, aber fühlte mich nicht im Geringsten erholt. «Guten Morgen, Ritchie», flüsterte Thomas mir sanft ins Ohr. «Die Alpträume endlich weg?» fragte er mich und ich begriff nicht gleich. «Alpträume?» «Ja mein Lieber, Du bist bis fünf regelmässig hochgefahren, hast mitunter irgendetwas gebrabbelt und schwer gekeucht.» «Ich weiss nicht … Im Moment ist keine Erinnerung da, ich fühl mich nur gerädert.» «Komm, lass uns aufstehen, ich mach Dir einen Kaffee. Magst Du was frühstücken, der Bäcker ums Eck hat schon offen.» «Danke, Kaffee reicht.» Er küsste mich sanft und das tat schon mal sehr gut und er roch auch am Morgen noch betörend. «Spring doch schonmal unter die Dusche, wenn Du magst, ich kann auch später, muss hier noch was vorbereiten, bevor ich mich nach Nieder-Bergen aufmache.» «Ja Danke, vielleicht weckt mich das richtig auf.»

Nach der Dusche, die tatsächlich half, schwang ich mir das Handtuch über die Hüften und schlürfte in die Wohnküche, wo Thomas bereits an seinem grossen Holztisch sass, vor ihm eine Tasse Kaffee und sein Tablet, von dem er sofort aufsah, als ich reinkam. «Geht’s besser? Dein Kaffee steht bei der Maschine.» «Ja, das Wasser hat tatsächlich die Lebensgeister etwas geweckt. So langsam kommen auch vereinzelte Bilder meiner Träume hoch, ich war ständig in kleinen Räumen eingesperrt und Steine flogen. Dafür brauch ich wohl kein Traumdeutungsbuch?» «Nein, aber gut hast Du wieder Deinen Humor. Es wundert mich auch nicht im Geringsten, dass Du solche Träume hast, nach den gestrigen Erlebnissen. Komm her und lass Dich umarmen. Steht Dir übrigens gut, nur mit Handtuch bekleidet.» Ich musste lachen und genoss kurz darauf seine feste Umarmung. «Übrigens, sehr schön Deine Wohnung, das viele helle Holz und alles so schlicht und im zeitlosen Design.» «Wow, Ritchie, bist Du auch in der Innenarchitektur sattelfest?» Er grinste breit. «Freut mich, dass es Dir gefällt, hat mich die Hälfte meiner Ersparnisse gekostet, aber ich war mein Sammelsurium leid, in dem ich bis vor kurzem noch wohnte. Bin hier erst vor drei Wochen eingezogen.» «Hey, dafür sieht es aber schon sehr, sehr ansprechend und wohnlich aus.» «Danke, ich mags halt schlicht, modern und mit viel Holz. Alles nachhaltig hier aus der Region. Und einiges designed von unserem Stefan.» «Brav! Und Wow! Wir haben auch ein paar Sachen von ihm in der WG, das macht er super. Aber er redet nie darüber.» Er nickte und ich wechselte das Thema: «Wie lang musst Du denn in Nieder-Bergen bleiben?» «Ich weiss es noch nicht, vielleicht schaffe ich es heute Abend zurück, wahrscheinlicher ist aber, dass ich erst morgen zurückfahre. Sind ja doch drei Stunden und nach elf abends fährt nichts mehr.» «Also gehst Du mit dem Zug?» «Ja klar, da kann ich auch arbeiten und Autofahren ist eh nicht meins, und nach aussen kann ich gleich noch den Öko geben.» Ich stupste ihn an der Schulter: «Schlingel Du.» «Und bei Dir? Steht was Besonderes an?» «Ja und Nein», antwortete ich. «Mein Fundraisingbrief geht heute wohl raus, Natascha sollte mit der Redigierung fertig sein und da kanns sein, dass gleich die ersten Reaktionen kommen. Ansonsten eher Kleinkram, die queeren Sänger brauchen einen neuen Probenraum, das heisst, wieder mal alle Schulen anrufen und um Räumlichkeiten betteln.» «Autsch, das macht sicher Freude?» «Und wie, aber so langsam kennen mich die meisten, aber den Schulleitern sitzen gern mal die Elternbeiräte im Nacken, dass für so einen Dreckskram die guten Schulen nicht missbraucht werden sollen.» «Echt? Immer noch? Manchmal ist der Fortschritt wirklich eine Schnecke.» «Und nicht selten schaltet die Schnecke auch noch den Rückwärtsgang ein.» Er sah mich belustigt an: «Netter Spruch, von Dir?» «Ich glaub ja», grinste ich zurück.

Ich zog mich an und kehrte wieder zu Thomas zurück, leerte meine Kaffeetasse und verabschiedete mich. «Ich melde mich, sobald ich weiss, wies aussieht. Werde aber immer wieder gern an Dich denken.» Seine charmanten Worte wärmten meine Seele und ich gab ein glückliches: «Ich werde auch an Dich denken, Du Prachtsmann» zurück und ich konnte sehen, dass er davon doch glatt rot wurde. «Nun aber auf in den Tag, Du machst mich ja ganz verlegen.» Wir umarmten uns ganz fest und küssten uns zum Abschied.

Ich ging noch zum Bäcker, holte mir ein Rosinenbrötchen und nachdem ich es aufgegessen hatte, schwang ich mich auf mein Rad und nahm den Weg zu meinem Büro, er kam mir schon fast vertraut vor.

Natascha war noch nicht da, als ich aufsperrte, gut, es war auch erst kurz nach halb acht und sie arbeitete eh mehr als ihr Soll. Ich merkte nur, wie ich ihre Anwesenheit vermisste. Aber ich hatte mich noch nicht mal richtig eingerichtet, da kam sie bereits. Sie sah reichlich übernächtigt aus, aber ihre Stimme hatte schon die gewohnte Power. «Einen ganz wunderschönen guten Morgen Chefchen.» «Ja guten Morgen Natascha, Du bist ja reichlich aufgekratzt.» Bin ich Ritchie, bin ich.» Und dann sprudelte sie los und ich liess sie einfach reden. «Ich war gestern mit meinen Mädels unterwegs, die übliche Kneipentour. Und geendet dann kurz vor Mitternacht in der Lilienbar. Frau, ich sag Dir, Weiber hats diesen Sommer – vom Feinsten. Aber das Beste kommt gleich, naja ist eher eine traurige Geschichte, aber was solls, sie hat auch was Gutes. Aber der Reihe nach. Ach Ritchie, verliebt hab ich mich auch noch, na mehr verschossen, heute Abend seh ich sie wieder. Erika – hört sich das nicht gut an? – Eeeeeriiiikaaaa, soviele Vokale, was glaubst Du, wie gut sich das im Bett rufen lässt? Eeeeriiikaaaa. - Ach ich wollte Dir doch die andere Geschichte erzählen. Also da war eine Susanne, so eine ganz Junge, gerade Achtzehn geworden, aber gut auf Zack. Die zweieinhalbte von vier Kindern, einen älteren Bruder – schwul. Eine Zwillingsschwester – lesbisch und eine jüngere Schwester, gerade Fünfzehn geworden, auch lesbisch. Kannst Dir das vorstellen? Viermal Volltreffer. Und total tolle Eltern, offen und verständnisvoll. Und nun – traurig, traurig - die jüngere Schwester wurde in der Schule deswegen übelst gemobbt, im Internet angegiftet auf allen Kanälen, das geht zu bei den Jungen, heftigst. Nun, und diese jüngere Schwester hat Anfang des Jahres deswegen einen Suizid versucht. Hat zum Glück überlebt. Und nun hat die Familie sich überlegt, dass da doch was unternommen werden müsste. Da hab ich ihr von unserem Suizidprojekt erzählt, sie war gleich total begeistert. Mit 5000 hat die Familie vor, sich zu engagieren. Fünf Tausend, na ist das nichts? Ich mail Dir nachher mal die Kontaktdaten von ihr zu. Ritchie, hörst Du mir überhaupt zu?» «Ja sicher Natascha, Du warst unterwegs, hast Dich in Erika verliebt und eine Grossspende für unser Projekt aufgetan. Alle Achtung Natascha, das ist doch mal eine Ausbeute, Super, herzlichen Glückwunsch.» Sie verbeugte sich und nahm dann erstmal in ihrem Stuhl Platz: «Ich glaub, ich brauch noch mehr Kaffee.» «Bleib sitzen, ich mach Dir einen, obwohl Baldrian mir grad besser für Dich vorkäme.» Ich lachte auf und sie warf mir mit giftigem Blick einen Kugelschreiber Richtung Kopf, der mich aber nicht traf.

Nach einem langen Seufzer fragte sie dann: «Und wie wars bei Dir mit den Koscheren? Den schönen Elias bezirzt? Die erste Frau dort bestaunt?» Ich sah sie lange an und fragte dann vorsichtig: «Du hast noch keine Nachrichten gehört?» «Dein Ton gefällt mir gar nicht Ritchie. Dein Blick aber auch nicht. Nein, ich hab bis eben auf Privatperson gemacht, war was los?» «Das kannst Du aber laut sagen.» Ich brachte ihr den Kaffee und setzte mich zu ihr an ihren Tisch und erzählte vom gestrigen Angriff. Ihr gerade noch so fröhlicher Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem immer finsteren Blick.

«Sind irgendwelche verletzt worden?» fragte sie, nachdem sie sich wieder etwas gesammelt hatte. «Nein, zum Glück nicht. Psychisch sicherlich, körperlich nicht. Nur die Fenster sind kaputt, aber die haben tatsächlich einen jüdischen 24-Stunden Fensterservice, die kamen gleich zum Reparieren.» Sie schüttelte den Kopf: «Das kann doch keine Lösung sein, ach Scheisse, grad gings mir noch so gut. Ritchie, manchmal ist das Leben echt übel. Kann das nicht einmal egal sein, wer wen liebt und wer an was glaubt?» «Ach Natascha, lass uns wenigstens von so einer Welt träumen und das eine oder andere dafür tun.» «Du und Dein Optimismus – nein ehrlich, kotzt es Dich nicht auch an?» «Und wie, ich bin heute auch nicht gerade der fitteste, mich haben offenbar mächtig Alpträume geplagt, ich erinner mich nur bruchstückhaft, aber Thomas hatte wohl deswegen eine recht unruhige Nacht an meiner Seite.» «Ah das läuft gut mit ihm?» Nun strahlte ich, wohl ebenso wie sie gerade bei der Erzählung von Erika: «Es ist grossartig. Ein echter Mann, geistig und körperlich. Und ein einfühlsamer. Ach.» Wir sahen uns ohne Worte an und lächelten trotz der Welt.

«Weisst Du was, Natascha? Wir schliessen den Laden für eine Weile. Wenn wer was will, haben wir ja unsere Telefone. Lassen wir mal die Arbeit Arbeit sein und gehen in die Innenstadt und gönnen uns im Café Hagedorn ein ordentliches Stück Torte. Ich hab gesehen, die haben jetzt auch vegane im Angebot. Und wir reden nur über gute Sachen. Ich muss doch auch unbedingt noch mehr von Erika erfahren – Eeeeriiiikaaaa!» Sie lachte auf und stimmte zu und im Nu war unsere Stimmung dann doch wieder an einem anderen Ort.

Aus dem Stück Torte wurden drei und danach war ich bestens über Erika, Nataschas Leben und die offenbar heisse Situation der lesbischen Frauen in Klaie informiert und sie wusste über alle Vorzüge meines Thomas Bescheid. Unsere Telefone liessen uns trotz der Ereignisse des Vortages in Ruhe. Pappsatt schlenderten wir gegen halb eins in unser Büro zurück. Natascha machte sich noch kurz an einen Check des Verteilers für den Fundraisingbrief und ich sortierte meine Kontaktadressen der Schulen mit Aula in Klaie. Bereits um Eins strahlte mich Natascha an: «Fertig, willst Du auf den Absendeknopf drücken?» «Ja gerne.» Ich ging zu ihrem Schreibtisch und an ihren Rechner und drückte auf `Senden`, wieder eine Etappe geschafft, dachte ich mir. Wir klatschen unsere Hände ab und da klingelte mein Telefon. Ich sah, dass es Thomas war. «Hallo mein Lieber. Dir müssen ja in den letzten Stunden kräftig die Ohren geklingelt haben?» begrüsste ich ihn überschwänglich. «Hallo mein Ritchie, nein, warum sollten sie denn? Hast Du über mich hergezogen? Wie unartig.» «Nein», sagte ich schmunzelnd, «Natascha und ich haben uns Torte bei Hagedorn gegeben und uns auferlegt nur Gutes zu erzählen, und Du warst durchaus ein wichtiger Bestandteil des Gesprächs.» «Ach so», grinste er, «na das soll mir recht sein. Und gut gemacht, nach dem gestrigen Tag. Mein Lieber, ich hab allerdings schlechte Nachrichten, ich schaffs definitiv heute nicht mehr zurück. Hab jetzt meine Gesprächstermine für Nieder-Bergen organisiert und den letzten Zug erreiche ich nicht mehr.» «Ach wie Schade. Aber morgen kommst Du sicher zurück?» «Ja das auf alle Fälle, auch deswegen rufe ich an. Ich würde gerne zuerst zu Dir, wenn ich ankomme, habe keine Lust, in meine einsame Wohnung zu gehen, sondern möchte viel lieber gleich Dich sehen. Ist es Dir recht?» «Ob es mir recht ist? Das ist nicht Dein Ernst, sowas überhaupt zu fragen, das ist mir aber sowas von recht!» «Du und Dein Charme, kein Wunder fühle ich mich wie ein kleines Kind an Weihnachten.» «Danke, gleichfalls mein Weihnachtsengel.» Im Hintergrund hörte ich typische Zuggeräusche, darum fragte ich ihn: «Du bist wie es sich anhört, noch unterwegs?» «Ja Ritchie, komme um halb zwei an, sitze hier ganz nobel in einem Business-Abteil – allein. Das ist prima, so konnte ich bereits ungestört alles vorbereiten und meine Anrufe machen.» «Na Glück muss man haben, aber wer will freitags schon nach Nieder-Bergen?» Er jaulte auf: «Offenbar nur Bekloppte wie ich.» «Beleidige nicht meinen Freund.» «Oh Danke. Nein, ich werde mir Mühe geben. Du Ritchie, es ist alles recht streng getaktet, falls ich es nicht schaffe, mich zu melden, bevor ich ins Hotel komme, wunder Dich bitte nicht. Ich werds versuchen, kann aber nichts versprechen.» «Ist schon in Ordnung, ich bleibe auf alle Fälle so lange auf, bis Du Dich meldest.» «Das ist lieb von Dir. So, ich muss noch zusammenpacken. Sei fest gedrückt und geküsst.» «Mmmmmh, ja Du auch Thomas, viel Erfolg. Ciao.» «Danke, Dir auch noch einen erfolgreichen Tag. Kuss und Ciao.»

«Ei ei ei, schwer verliebte Jungs», lachte mich Natascha an, als ich das Telefon wieder auf den Tisch gelegt hatte. Ich wollte irgendwas Freches sagen, aber mir fiel in dem Moment nichts ein, so grinste ich sie nur schelmisch an und zog meine Schultern hoch.

Danach begann mein Telefonmarathon, zuerst alle Schulen in halbwegs guter Nähe zur Innenstadt, aber es hagelte nur Absagen. Seit das Schuldepartement die Räume auch für die Klaiener Vereine zugänglich gemacht hatte, waren diese stark ausgebucht. Aber im Vergleich zum letzten Mal, als ich geeignete Räume suchte, hatte sich der Ton deutlich verändert, er hatte fast sowas wie einen Service- und Dienstleistungscharakter. Dann fiel mir Bartels ein. Er war ein gemütlicher Direktor, wohl nur wenige Jahre vor der Pensionierung und sein Sohn der Star der queeren Schwimmer, er hatte schon von internationalen Turnieren einige Medaillen nach Klaie gebracht. Und ich mochte den älteren Herrn mit seiner warmen freundlichen Stimme. Seine Schule war zwar weit im Norden der Stadt, in einer der Trabantensiedlungen aus den Sechziger Jahren, aber seit vor fünf Jahren das Gebiet einen S-Bahn-Anschluss bekommen hatte, nahm es wohl eine sehr positive Entwicklung. Und die Fahrzeit war mit zehn Minuten vom Hauptbahnhof auch vertretbar.

«Schulzentrum Im Rain, Direktor Bartels am Apparat. Was kann ich für Sie tun?» «Guten Tag Herr Bartels, hier Gaffer, Richard Gaffer.» «Herr Gaffer, was für eine schöne Überraschung an diesem Freitag. Was kann ich denn für Sie tun?» «Herr Bartels, ich machs gleich direkt. Unser Chor sucht einen neuen Probenraum, der in dem sie jetzt sind, wird abgerissen.» «Die Schule am Amselweg?» «Ja genau, ich bin dort noch selbst zur Schule gegangen.» «Na nichts für ungut Herr Gaffer, aber um diesen alten Kasten ist es nicht Schade.» «Das mag sein, aber wie sieht es denn bei Ihnen aus, meinen Sie, Ihre Aula könnte unser Chor benutzen? Am besten immer dienstags von 19-22 Uhr?» «Sie schickt der Himmel, Herr Gaffer.» «Ui, das hört unsereins aber selten.» Er lachte und meinte dann: «Im Ernst Herr Gaffer, das Kollegium, der Elternbeirat und die Schülervertretung haben vor zwei Monaten einstimmig, hören Sie, einstimmig, beschlossen, bei diesem internationalen Programm `Bring diversity into school` mitzumachen, und ein Punkt, den wir dabei realisieren sollen, ist es, die Schulräumlichkeiten für Gruppen aus der Eldschibitieikjuplas-Community zu öffnen. Aber nicht mal die Schwimmgruppe, meines Sohnes will hier in den Rain. Und wir haben sogar ein 50-Meter Becken, beste Trainingsvoraussetzungen also.» «Sie wissen, dass wir hier in Klaie queer sagen und uns nicht mit diesem Kürzelwahn bezeichnen?» Ich war voll in meinem Präsidentenmodus, die jahrelange und zum Teil wüste Debatte, wie wir uns bezeichnen, sass mir doch noch in den Knochen. «Ja ich weiss, Herr Gaffer, mein Sohn korrigiert mich auch immer, aber für dieses Diversity-Programm müssen wir diesen internationalen Kürzelsalat verwenden, er will mir ja nun auch nicht recht locker über die Lippen.» «Ah verstanden Herr Bartels, aber das klingt, als wären Sie bereit, dem Chor Unterschlupf zu geben?» «Ja, Moment, ich schau mal eben den Belegungsplan an.» Ich hörte ihn tippen und kurz danach sagen: «Das passt sehr gut, am Dienstagabend ist die Aula frei, und die Mensa hat auch offen, da die Volksbildung hier ihre Kurse gibt.» «Super Herr Bartels, jetzt muss ich nur noch die Chormitglieder überzeugen, in den Rain zu kommen.» «Sagen Sie denen doch bitte, dass wir hier draussen noch keinen einzigen homophoben Angriff hatten, nach den Berichten der letzten Tage aus der Stadt, muss ich das vielleicht doch extra betonen.» «Danke Herr Bartels, das ist sicher ein gutes Argument.»

Wir plauderten noch ein wenig über die Entwicklung im Rain und Bartels erzählte dann ausführlich von den Erfolgen seines Sohnes, ganz der stolze Papa, Natascha lugte immer wieder dabei zu mir rüber und lächelte. Es passierten doch auch mal gute Sachen. «Ich höre dann also von Ihnen Herr Gaffer?» «Entweder von mir, Herr Bartels oder von einem Herrn Silberwald, der ist der Chorleiter.» «Ah Silberwald, ich notiere mir das und sage auch meinem Sekretär Bescheid.» «Sie haben einen Sekretär? Keine Sekretärin?» Bartels schmunzelte und meinte dann nur: «Sehen Sie Herr Gaffer, wir hier draussen sind manchmal weiter als die Stadt.» «Das höre ich gern. Herr Bartels, kann ich Sie gerade noch für etwas begeistern?» «Nur zu Herr Gaffer, was haben Sie noch?» Ich erzählte ihm von meinem Suizidprojekt und dass wir damit gerne an die Schulen gehen würden, dass es derzeit noch mit der Finanzierung hapere, aber eine erste grössere Spende da sei und wir bald mit dem Pilot beginnen könnten. Er war sofort Feuer und Flamme und so verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, bald wieder voneinander zu hören.

«Herzlichen Glückwunsch», rief mir Natascha zu: «Das hast Du jetzt aber geschickt eingefädelt, Chefchen.» «Danke, aber mit Bartels ist das echt unkompliziert, und wie er von seinem Sohn erzählt, wow, das ist echt eine Freude.» Die Stimmung im Büro war nach Torte und den kleinen und grossen Erfolgen jetzt doch deutlich entspannter als noch am Morgen und Natascha und ich plauderten bis zum Feierabend um Fünf einfach ein wenig über Gott und die Welt, was wir auch nicht oft machen konnten.

 

 

 

12 Diebstahl

 

Es war halb sechs als ich zu unserer Wohnung am Ostmarkt kam. Mohrles Ritual erledigte ich heute mit besonders grosser Freude, hatte ich sie doch auch seit Mittwoch nicht mehr gesehen. Aus der Küche rief mir Lou schon ein herzliches «Hallo Ritchie, welcome back!» zu und ich begab mich zu ihr, umarmte sie fest und sie mich fast noch fester und ich hörte sie sagen: «Ah gut Dich heil wieder zu sehen. Das war knapp, was?» «Ja Lou, das war es. Aber gönn mir noch einen Moment, bevor ich erzähle.» «Sicher doch, Du kannst mir aber gleich beim Einräumen helfen.» Erst jetzt sah ich die vielen Einkaufstaschen, die herumstanden. Lou bemerkte meinen musternden Blick: «Ich hab doch gesagt, ich kauf für den Sonntagsbrunch ein. Morgen noch die frischen Sachen vom Markt und dann kanns losgehen.» «Liebe Lou, wen erwartest Du denn? Das sind ja Unmengen, die Du da eingekauft hast?» «Weisst Du Ritchie, ich hab mir gedacht, wir könnten endlich mal offiziell unsere renovierte Küche einweihen.» «Und wie willst Du das? Mit einer Kochorgie?» «Ja so in der Art, Du frecher Kerl. Aber im Ernst, ich dachte, wir laden einfach ein paar Freundinnen dazu ein und machen einen grossen Brunch. Ich bin eh im Kochfieber.» «Hört sich gut an. An wen hast Du da so gedacht?» «Na Dein Thomas auf alle Fälle, den muss ich noch etwas inspizieren.» Sie grinste mich vielsagend an. «Dann hab ich an Ndbele und Mia gedacht, da kann ich Ihr gleich Danke für Ihre Unterstützung sagen und Mia ist gerade im Lande. Wie ists mit Natascha?» «Oh ja, eine gute Idee, vielleicht bringt sie noch ihren neuen Aufriss mit. Erika – oder wie sie es wohl sagen würde Eeeeeriiiikaaaaa.» Lou sah mich verwirrt an. «Ach, ihr gefallen wohl die vielen Vokale in dem Namen so, weil sich das, ihren Worten nach, gut im Bett brüllen lässt.» Lou lachte auf: «Praktisch veranlagt Deine Kollegin.» «Ja ist sie, und auch sonst ein tolles Weib.» «Wir fragen nachher noch Stefan und morgen auch Tom, ob sie wen einladen möchten. Kann ja alles recht spontan zugehen. Verhungern müssen wir sicher nicht. Ah ich freue mich schon, mal wieder gross hier rumzuwerkeln, all die tollen Gerätschaften nutzen, den Apothekerschrank mit den Gewürzen, die vielen Rondelle mit all den Töpfen und Pfannen und den ganzen Schnick-Schnack hier.» «Lou, ich hab mit Dir zusammen diese Küche geplant, ich kenne sie.» «Aber Du nutzt doch fast nur die Kaffeemaschine, mein Lieber. Und in diesem roten Paradies muss ich noch schauen, was ich anziehe, damit ich voll zur Geltung komme.» Ich sah sie lächelnd an: «Aber nicht ebenfalls was Rotes, sonst sieht Dich ja keiner.» Sie gab mir einen angedeuteten Tritt in meinen Hintern: «Lern Dich mal zu benehmen, so spricht man nicht mit einer Dame.»

Nachdem alles verräumt war, nahmen wir auf der Terrasse Platz und ich erzählte ihr von meinen Ereignissen und sie gab ein paar hübsche Geschichten aus dem Amt zum Besten. Irgendwann fragte ich dann: «Hast Du nicht etwas von einem Date heute Nacht gesagt?» «Ja, das ist auch noch aktuell, allerdings erst um neun, sie muss noch kurz zu ihren Eltern, aber dann …» Sie sah mich nur frech an und ich musste nun wirklich nichts mehr dazu sagen.

Um halb neun kam Stefan nach seinem Besuch im Fitness-Studio zu uns, er war aber nur kurz angebunden: «Hallo Ihr zwei, ich bin gleich wiedör wög, ich göh ein wönig um die Häusör ziehön.» «Ah, wenn die Katze aus dem Haus ist …», konnte ich mir dann doch nicht verkneifen zu sagen, doch Stefan blieb unbeeindruckt: «Ich bin abör keinö Maus. Habt einön schönön Abönd.» Damit verschwand er in sein Zimmer und kurz darauf grusslos aus der Wohnung.

«Na da hats aber einer eilig», meinte Lou noch und verabschiedete sich auch von mir. «Ich wünsch Dir eine tolle Nacht, liebe Lou, und ich überleg mir noch, wer am Sonntag dazu kommen sollte.» «Prima Idee, lass Dir den Abend alleine nicht zu lange werden.» «Danke, mach ich. Ciao Lou.»

Es war tatsächlich sehr ungewohnt, einen Abend mal wieder allein zu sein. Selbst Mohrle hatte heute kein Interesse an mir. So legte ich mich bequem aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein, es gab auch irgendeinen seichten Unterhaltungsfilm, über den ich nach nur wenigen Minuten einschlief. Die Alptraumnacht forderte nun seinen Tribut.

Das Klingeln meines Telefons weckte mich. Noch nicht ganz wach, hatte ich Mühe, das Display klar zu erkennen, so meldete ich mich ganz förmlich mit: «Gaffer hier.» «Hallo mein Ritchie, na Du klingst ja ganz verschlafen. Sorry, dass ich Dich wecke.» Ich gähnte gerade nochmal kurz und versuchte dann möglichst wach zu klingen: «Hallo mein Thomas. Ja ich bin vor dem TV eingeschlafen. Aber schön, Dich nun zu hören.» «Danke, ich bin gerade ins Hotel gekommen, gut dass ich noch gebucht hatte, mein letztes Gespräch ging dann doch bis kurz nach halb zwölf.» «Wie spät ist es denn jetzt?» fragte ich noch immer etwas schläfrig. «Gleich Mitternacht», antwortete mir Thomas. «Ich wollte nur noch mal Deine Stimme hören und Dir sagen, ich komme um drei in Klaie an und bin dann kurz danach da.» «Sehr schön, dann freu ich mich schonmal vor. Ach Thomas, Lou lädt am Sonntag zum Partybrunch ein, und Dich will sie unbedingt dabeihaben. Passt Dir das?» «Na sicher, lerne ich sie auch mal besser kennen und welche Leute Euch sonst so wichtig sind. Und wenn sie so gut kocht, wie Du schwärmst, dann wird das in jeder Hinsicht ein schöner Tag.» Noch bevor ich etwas dazu sagen konnte, unterbrachen mich das Öffnen der Wohnungstür und zwei etwas laute Männerstimmen, eine davon war eindeutig Stefans. Auch Thomas konnte das hören. «Na was ist denn da bei Euch los?» Ich sprach etwas gedämpfter: «Stefan kommt heim, offenbar nicht allein. Er hat vorhin nur kurz mitgeteilt, er ginge noch um die Häuser, offenbar mit Erfolg.» «Na ich dachte, die wären so monogam?» «Ja, das dachten wir alle, aber offenbar ists damit heute vorbei.» Wir mussten leise kichern. «So lieber Ritchie, ich sollte jetzt auch ins Bett und Du weiterschlafen.» «Ja besser ist das. Gute Nacht Thomas, fühl Dich umarmt und geküsst.» «Danke, Du Dich auch, gute Nacht Ritchie.» «Gute Nacht Thomas.»

Auf meinem Weg durch den langen Gang zu meinem Zimmer kam ich noch an Stefans und Toms Zimmer vorbei – und eindeutig, Stefan hatte keinen Gesprächspartner mit nach Hause gebracht. Ein Blick in Lous Zimmer, das als nächstes kam, liess mich Mohrles Aufenthaltsort finden, mitten in Lous Bett, sie blinzelte mich nur kurz müde an, um sich dann weiter ihrem Nachtschlaf zu widmen. Nach einer kurzen Zahnpflege nahm ich gemütlich in meinem Bett Platz, KingSize-Matratze für einen allein war ein Luxus, den ich immer wieder schätzte, auch wenn ich sie heute gerne doppelt belegt hätte. Noch über den Gedanken an Thomas schlief ich erneut fest ein.

Ein lauter Knall weckte mich, ein Blick auf den Wecker zeigte exakt 4.00 Uhr. Das war die Eingangstür, kam mir in den Sinn. Ich entschloss mich, besser nachzusehen, was da war. Ich schaltete das Flurlicht an, Mohrle stand bereits irritiert im Flur. Ich ging den Flur entlang, die Tür zu Stefans und Toms Zimmer stand offen. Da ging dort auch das Licht an und Stefan kam torkelnd und wackelig daher, die Hände am Kopf und ihn massierend. Es sah aber nicht nach Torkeln durch zu viel Alkohol aus. Er sah mich nur kurz an, ging wieder wortlos ins Zimmer zurück und sah sich im Zimmer um. Dann tönte es laut: «Diesös Schwein, diesös vördammtö Schwein. Das hat hier meinö Untörlagön, meinön göheim-PöCö und meinö Datön göklaut. Vörfluchtö Scheissö.» Ich folgte ihm ins Zimmer. «Und diesö Rattö kanntö sich aus. Schau Ritchie, dör hat gözielt zugöschlagön. Als wärö ör hier zu Hausö.» Wir sahen uns um, ein paar Schranktüren und Schubladen geöffnet, alles ohne Durcheinander gezielt gemacht. Dann sahen wir uns an und fast gleichzeitig kam es uns in den Sinn, «Herwig». Stefan schüttelte mich: «Örinnör Dich, was ist damals gönau passiert, als ör hier war?» «Au Stefan, Du tust mir weh. Ja Moment. Er hat mich im Löwen angebaggert, da war ich eigentlich mit Thomas verabredet, er mit ihm schon vorher. Dann sind wir hierher.» «Lass mich ratön, ör war vollgökokst und hat Dich kaputtgöfickt?» «Ja, so in etwa, nette Ausdrucksweise übrigens, Stefan. Aber es kommt hin, ich bin danach ziemlich kaputt gewesen und eingeschlafen. Ich bin dann aber in der Nacht auch so gegen vier aufgewacht, da sass er in der Küche und war am Surfen auf seinem Telefon.» «Klar, die altö Maschö. Scheissö, dör hat damals die Wohnung ausspioniert und dör Böngöl heutö war wohl angösötzt auf mich. Ich wettö, in meinöm Bier warön k.o.-Tropfön. Mann, hab ich nön Schädöl.» «Seit wann hast Du denn überhaupt ausserehelichen Verkehr?» «Öcht Ritchie? Das willst Du jötzt wissön? Immör schon. Na ich halt. Tom liebt seinö Treuö. Atr5EWRdem Pärchenzimmer, das ja nun kein Monogamistenzimmer mehr war. «Meine Güte, Ritchie», murmelte ich mir selbst vorwurfsvoll zu, «das scheint Dich ja echt mehr zu bewegen als der andere Mist.» Mohrle sah mich verwundert an, sprang dann aber doch auf meinen Schoss und machte es sich gewohnt umständlich bequem.

Dann kam auch Stefan rein, nur mit Unterhose und knappem T-Shirt bekleidet, unter dem Arm einen alten Laptop und in der einen Hand ein ziemlich billig aussehendes Telefon und einen USB-Stick. Wortlos brachte er den Rechner in Betrieb, schob den Stick rein und nach einer Weile sagte er dann doch etwas und zeigte auf den Stick: «Sichörheitsbackup, und dön altön Laptop und das Pre-Paid-Handy hat nicht mal Hörwig öntdöckt. Ha, Anfängör! Ach und dankö für Kaffö und Tablöttön.» Er schluckte die zwei auf einmal und spülte mit Kaffee nach. Da der alte Rechner doch noch ein Weilchen brauchte, holte er sich sofort einen zweiten. Ich war mittlerweile ziemlich wach und beobachte erstaunt die seltsamen Telefonate, die Stefan nun begann und die bis auf die Nummern komplett identisch waren und die er völlig ungewohnt ganz ohne Akzent ausführte: «Hallo, hier ist der meteorologische Dienst Klaie. Für heute ist strahlender Sonnenschein angesagt, bitte verwenden Sie Lichtschutzfaktor 41. Der Wetterdienst spannt inzwischen den Sonnenschirm auf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.»

Nach dem etwa zehnten dieser Anrufe, brauchte Stefan Koffeinnachschub und liess sich einen weiteren Kaffee aus unserer Edelmaschine mit Mahlwerk raus. Ich nutzte die Pause und fragte: «Stefan, was sind das für seltsame Anrufe? Wird da einer überhaupt schlau draus?» «Ja sichör, Ritchie, ist einö reinö Vorsichtsmassnahmö, övöntuöll hört doch wör zu. Wönn dör mötöoroligischö Dienst anruft, kommts von ganz obön und ist dringönd. Strahlöndör Sonnönschein ist, Datön aufgöflogön odör sonst was brönzligös. Dör Lichtschutzfaktor sind Kontaktleutö aussörhalb Klaiös, wo die Leutö flüchtön könnön, wönn sie die Situation für göfährlich haltön – das muss jödör sölbst öntscheidön. Die wissön, wör und wo welchö Nummör ist. Und wönn dör Wöttördienst dön Sonnönschirm aufspannt, heisst das, keinö Tölöfonköttö, ös wird zöntral tölöfoniert. Abör halt darübör bloss dön Schnaböl, hörst Du?» Er sah mich eindringlich an. «Sicher, sicher, keine Sorge, aber Danke fürs Vertrauen.» Ich machte eine Pause und konnte es dann doch nicht lassen: «Fürs Vertrauen und diesen heissen Anblick!» Das konnte wenigstens ein kleines Lächeln in Stefans Gesicht zaubern trotz der Anspannung, gleich darauf war er wieder bei seinen klar verständlichen Anrufen. Dabei dauerten diese selten länger als die Zeit, bis am anderen Ende jemand abnahm, aber es war ja immer noch sehr früh für einen Samstagmorgen.

So allmählich wurde mir aber langweilig, Mohrle war mittlerweile im Tiefschlaf und als Stefan seinen vierten Kaffee rausliess, fragte ich, ob er mir mein Telefon aus meinem Zimmer holen wollte. Erstaunlich bereitwillig sagte er «Ja» und ging los, und ich bewunderte seinen Knackarsch. Das schien ihm nicht zu entgehen, denn bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand streckte er ihn mir noch extra verführerisch entgegen, so dass ich doch laut auflachen musste.

Er kam mit meinem Telefon bald zurück und hatte ein sehr ernstes Gesicht auf. Er holte einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. «Ritchie, ich übörlögö noch, wie Hörwig das gödeichsölt hat. Kannst Du Dich gönau an dön Abönd örinnörn, als ör Dich abgöschlöppt hat? Ist da irgöndwann mal mein Namö göfallön?» «Hmm, lass mich mal nachdenken, ja jetzt wo Du es sagst. Moment, wie war das noch gleich. Ah ja, er war am Bestellen, da hatte Thomas mich gefragt, mit wem ich in der WG wohne und ich sagte ihm, Tom, Stefan und Lou. Ich dachte in dem Moment gar nicht, dass er uns überhaupt zugehört hatte. Aber einige Minuten später fragte er nach, ob dieser Stefan, wie waren noch seine Worte, ah ja, dieses Fitnesswunder sei, hinter dem ganz Klaie her wäre.» «Und was hast Du darauf gösagt?» Ich musste doch nochmal nachdenken: «Nichts, ja ich bin mir sicher, nichts, nur genickt, ich war ein wenig perplex von seinen Worten.» «Hat ör Dich davor schon irgöndwie angöbaggört?» «Nein, nicht dass ich es bemerkt hätte, aber ich hatte an dem Abend nur Augen für Thomas. Aber richtig, das Gebaggere setzte erst kurz danach ein, als Thomas wegmusste.» «Na das war wie ein Söchsör im Lotto für dön. Sorry Ritchie, ich muss Dir da die Illusion raubön, abör um Dich gings da nie. Hörwig vörsucht schon seit übör einöm Jahr, hier in diesö Wohnung zu kommön.» Ich machte ein verdutztes Gesicht. «Immör wönn ich allein durch die Kneipön göhö, taucht ör auf. Hat wohl die Wirtö odör Barkeepör auf dör Göhaltsröchnung. Und immör die Maschö mit `zu mir odör zu Dir`. Ich bin einmal drauf eingögangön und sagtö, okay zu Dir. Keinö fünf Minutön spätör bökam ör einön Anruf, dringöndör Notfall in dör Familie.» «Was für ein mieser Kerl, was für eine Sau», kam es aus mir raus. «Kannst Du laut sagön. Abör wie ich hörtö, immörhin einö potentö.» Er grinste dreckig und ich erwiderte nur: «Zumindest mit Hilfsmitteln.» Wir lachten uns an und Stefan meinte trocken: «Strafö muss sein.»

«Ach Stefan, aber jetzt will ich noch was wissen, hast Du gerade noch einen Moment?» «Ja, mir ist öh göradö dör Mund noch fussölig von döm immör gleichön Spruch. Was willst wissön?» So redselig kannte ich ihn gar nicht. «Du sprichst immer von Masche und kennst diese wohl recht gut. Woher?» «Ach Ritchie, du kleinör Unschuldsöngöl.» Er grinste schelmisch. «Weil ich das doch auch so machö. Was meinst Du wohör die Antifa so gut die Wohnungön lötztöns durchsuchön und räumön konntö?» «Aber die Faschos sind doch nicht alle schwul?» «Nein, abör möhr, als man dönkt. Und ich bin ja nicht dör einzigö, dör das macht, unsörö Frauön und Hötönmännör müssön da auch ran an die Front.» Er lachte laut auf und fügte dann noch hinzu: «Nur blauäugig müssön sie sein, sonst hauts bei mir nicht hin.» Sein Lachen schwoll an. Und wie er so in Fahrt war, gab er mir dann noch eins mit: «Hättöst Du blauö Augön, Ritchie, ich wettö, Du könntöst söltön noch richtig göhön, örst röcht nicht möhr Radfahrön.» Das sass, und doch fühlte ich mich geschmeichelt und starrte ihn nur mit offenem Mund an. Mit «Ich muss weitör machön, sorry Süssör» beendete er unsere Unterhaltung und widmete sich wieder seinen Anrufen.

Nach Bett war mir nun auch nicht mehr und kurz danach hatte auch Mohrle genug von mir. Es ging mittlerweile auch auf die sechs Uhr zu. Ich nahm mir also auch einen Kaffee und brachte auch Stefan einen weiteren, der schon mit seiner leeren Tasse gewunken hatte. Danach fütterte ich die Katze und beschloss, mich anzuziehen und zu unserem Bäcker auf dem Platz zu gehen, der bald öffnen würde. Stefan und ich hatten uns eine gehörige Portion Kalorien verdient.

Als ich mit reichlich vielen süssen Leckereien vom Bäcker zurückkam und Mohrle satt, wie sie nun offenbar war, mich nicht mal an der Tür begrüsste, hatte Stefan offenbar alle erreicht und sass erschöpft in dem Sessel, auf dem ich vorhin noch mit Mohrle war. «Du bist ein Schatz, Ritchie», sagte er matt, als er meine grosse Bäckertüte sah. Hungrig machten wir uns über das feine Gebäck her. Danach verabschiedete er sich in sein Zimmer, er müsse jetzt dringend Sport machen und seine Wut abreagieren. «Ich hoffö, ös kommön keinö üblön Anrufö, dass unsörön Leutön was passiert ist», sagte er noch und war dann erstmal weg.

Ich beschloss, die Zeit mit etwas Internetsurfen zu verbringen. Mal sehen, was unsere Vereine und Gruppen so auf ihren Seiten mitzuteilen hätten, was Mia gerade an Projekten am Laufen hatte, damit ich morgen mit ihr etwas fachsimpeln können würde und ob es aktuelle Neuigkeiten aus Klaie gäbe. Ich ging also in mein Zimmer, setzte mich an den schweren Kirschbaumschreibtisch, den ich von meinem Grossvater geerbt hatte und der zwar nicht in meine Vorstellung einer modernen Wohnung passte, mir aber ans Herz gewachsen war. Ich schaltete meinen Rechner an und es dauerte nicht lang, da legte sich Mohrle genau davor hin, nicht ohne davor noch dreimal über die Tastatur hin und her zu laufen und alle möglichen Internetseiten dabei zu öffnen. So sah ich als erstes dann nicht meine gewünschten Homepages, sondern den aktuellen Werbefilm von Klaie Tourismus. Sie nutzten jetzt auch Drohnentechnik und es war atemberaubend für meinen Geschmack. Schönste Bilder aus der Luft, die markante Sankt Laurentiuskirche mit ihren ungewöhnlichen drei Türmen, das kleine mittelalterliche Altstadtquartier daneben, das sich wie ein Wunder fast original erhalten hatte, die herrschaftlichen Häuser der übrigen Innenstadt, die Zeugnis ablegten, wie reich die Stadt bereits vor der Industrialisierung war, als Klaie noch eine eigene Grafschaft war, die liebliche Lage am Rande des Weeseler-Hügellandes, die Villen auf dem Dübschen und der ebenfalls dort ansässige Zoo, der sich sanft an den Hügel schmiegte, und natürlich die Weesel, die sich sanft durch die Stadt schlängelte. Dass sie dabei den kanalisierten östlichen Teil vom Bahnhof bis zur Stadtgrenze nicht zeigten, passte zu dem Hochglanzimage. Aber auch dieser Teil sollte ja nach der Fertigstellung des Bypasses wieder renaturiert werden und damit die Bausünde aus den Sechzigern vergessen machen. Ich spürte, wie ich mich mal wieder in meine Heimatstadt verliebte. Ereignisse hin oder her, war schon ein schönes Stück Welt.

Danach widmete ich mich meinem eigentlichen Surfvorhaben und genoss es dabei, wie sich die Katze immer fester an mich kuschelte. Die Seiten unserer Mitgliedsgruppen liessen mich mächtig stolz werden, wow, was für eine Vielfalt, was für ein Engagement, dachte ich mir, Gesang, Sport, Politik, Malerei, Coming-Out-Hilfe, Religiöse und überzeugte Atheisten, Kochbegeisterte – es gab fast nichts, was es nicht gab. Und ich durfte mit und für all diese tollen Leuten arbeiten. Gedanklich klopfte ich mir ein wenig auf die Schultern. So richtig haute mich aber die Homepage von Mia um. Sie hatte es wahrlich geschafft. Neben den Bildern ihrer Kunst, Videos ihrer Performances sah ich sie mit dem Who-Is-Who der globalen Kunstwelt posieren, ins Gespräch vertieft oder mit den Mächtigen der Welt plaudern. Ab und an war auch Ndbele zu sehen, tolles Paar stellte ich fest.

So verging die Zeit recht kurzweilig bis kurz vor zwölf Mohrle Richtung Tür lossprang und von Lou ihren Wegzoll einforderte.

 

 

 

13 Besuch

 

Ich beendete meine Surferei, folgte der Katze und begrüsste Lou herzlich. Sie war erneut mit vielen Taschen heimgekommen und manches Grün lugte über die Taschenränder. «Ich war grad schon auf dem Markt und hab jetzt wohl alles zusammen für den morgigen Brunch», beschied sie mir. «Und wie war Dein Date?» fragte ich sie. «Ich kann noch atmen und gehen, das muss Dir für heute reichen», antwortete sie mir mit einem strahlenden Lächeln und ich beliess es dabei und half ihr lieber, die schönen frischen Sachen zu versorgen.

«Und Du hast Dir einen ruhigen Abend gemacht?», fragte sie dann und ich antwortete mit «Ja» und erzählte ihr danach von den Ereignissen der Nacht. Sie blieb ziemlich emotionslos, was mich wunderte und darum fragte ich sie: «Du nimmst das ja sehr gelassen auf? Sind das noch die Nachwehen Deiner Nacht?» In ziemlich ernsten Ton antwortete sie mir: «Weisst Du Ritchie, die letzten Tage haben so viel Neues gebracht. Und einiges davon hat mich wirklich erschüttert, so dass ich scheinbar nun abgestumpft bin. Es wundert mich einfach nichts mehr – und ehrlich gesagt, ich mag mich nicht mal mehr wundern. Schlimm?» «Nein, Lou, ich wäre froh, könnte ich das auch so gelassen nehmen, mich wühlts eher auf.» «Na kein Wunder, Du hast ja deutlich mehr erlebt und das hätte böse enden können. Für mich kommt das alles eher wie in einem schlechten Film vor und ich warte nur noch auf den Abspann.» Ob dieser Entspanntheit musste ich doch lachen, «Du bist mir eine Nummer Lou, aber gerade jetzt tut mir Deine Art besonders gut.» «Danke Ritchie, mal sehen, ob es nur Selbstschutz bei mir ist und ich bald völlig konfus werde.» Nun musste sie selber über sich lachen.

«Und was hältst Du davon, dass unsere zwei Monogamisten gar keine sind?» «Find ich gut, echt. Du kennst meine Einstellung dazu, ist doch überholt, sich dabei nur auf einen Menschen zu konzentrieren.» «Du steckst das gut weg», meinte ich trocken. «Ich hab ehrlich gesagt, nie ganz daran geglaubt. Schau Dir doch mal Stefan an, der kann doch haben, wen er will und dass er dieses Körperschinden nur für sich oder Tom macht, na das hab ich nie geglaubt.» «Wow, hättest ja mal was sagen können.» «Wozu? Du warst so in dieses Bild von den beiden Treuen verliebt, da reiss ich Dich doch nicht aus Deinem Wolkenkuckucksheim.» Ich stupste sie sanft auf die Schulter, «Böses Mädel, Du.» Sie wechselte rasch das Thema. «Was macht Thomas?» «Der kommt heute zurück und gleich danach hierher, ist Dir doch recht?» «Was sollte ich dagegen haben?» «Ach, ists schon nach zwölf?», fragte ich. «Ja gut drüber, wieso?» «Er sollte jetzt im Zug sein, ich glaub, ich rufe ihn mal an, vielleicht mag er vom Bahnhof abgeholt werden.» «Mit einem Strauss Rosen?» lästerte Lou und ich quittierte es nur mit einem Versuch eines bösen Blicks.

Er meldete sich auch sofort, als ich ihn anrief: «Guten Morgen, oder besser guten Tag mein Lieber», meldete er sich. «Hallo Vermisster, alles geklappt, sitzt Du im Zug?» «Ja Ritchie, alles paletti, geht’s Dir gut?» Ich erzählte ihm von dem, was passiert war und er fragte zu meinem Erstaunen: «Hat Stefan angedeutet, ob dieser Diebstahl gegen die Antifa gerichtet war?» «Gegen wen sollte es sonst gerichtet sein?» fragte ich sehr verwundert: «Er hat jedenfalls alle angerufen und gewarnt.» «Tja, was meine Recherchen ergeben haben, wollen die Faschos Chaos in Klaie anrichten, und sie haben wohl Koller und Gaffer im Visier.» «Wie bitte?» Das kam etwas schrill daher, wie ich selbst feststellte. «Ganz ruhig Ritchie», ich spürte, wie Thomas dabei grinste: «Ist noch nicht alles spruchreif, ich versuch das noch etwas zu ordnen, aber offenbar hat der Tod von Kollers Bruder…», «Dem Attentäter von 1982?» «Ja dem, na jedenfalls scheint das die Karten neu gemischt zu haben. Aber was anderes, welchen Umstand verdanke ich Deinen Anruf?» «Ich wollte fragen, ob es Dir recht ist, wenn ich Dich nachher am Bahnhof abhole?» «Du Romantiker, mit einem Strauss Rosen?» Ich musste auflachen: «Du denkst wie Lou, die hat das auch gerade so gefragt.» «Aber sorry Ritchie, ich möchte nach meiner Ankunft noch eben in die Redaktion des Klaiener Boten und schauen, wie ich da meine möglichen Artikel unterbringe und ob sie mittlerweile auch was in Erfahrung gebracht haben. Es wird wohl vier, bis ich dann bei Dir bin.» «Ach Schade, aber vier ist ja auch noch eine gute Zeit», sagte ich mit enttäuschter Stimme und Thomas spürte das: «Kopf hoch mein Lieber, ich bleib dafür auch die Nacht bei Dir, wenn Du magst?» «Oh und wie ich das mag», meine Stimmung hellte sich schlagartig auf, «dann lass ich Dich jetzt ordnen und freue mich weiter auf Dich vor.» «Danke Ritchie, ach ich wünschte, der Zug würde schneller fahren.» «Kuss Thomas, halt dich wacker.» «Du Dich auch Ritchie, Kuss.»

Ich hatte gerade aufgelegt, da kam auch Stefan wieder aus dem Zimmer und begrüsste erstmal Lou. Mittlerweile hatte er sich eine Jogginghose und ein normalwüchsiges T-Shirt angezogen. «Na Jungs», meinte Lou, «wir wär`s mit Kaffee, Sekt und Joint auf der Terrasse? Ich hab noch eine Weile, bevor ich mit dem Kochen anfangen muss.» «Gute Idee», antwortete ich und Stefan nickte begeistert und holte das Jointglas. Da es nur noch mit zwei Gedrehten bestückt war, brachte er auch die Utensilien zum Auffüllen mit auf die Terrasse und setzte sich an den Tisch, um nachher weitere zu produzieren. Lou brachte die Getränke und ich noch die vier übrig gebliebenen Gebäckstücke vom Morgen, da war wohl mein Auge grösser gewesen als unsere Mägen.

Ich erzählte vom Werbespot über Klaie, den ich vorhin gesehen hatte und im Nu drehte sich das Gespräch über unsere Stadt und was wohl aus ihr noch werden wird. Stefan wurde beim Tütenbau unterbrochen, da sich Mohrle auf seinem Schoss niederliess und ihre Streicheleinheiten einforderte. Bis sie dann nach einer guten Weile aufsprang und eiligst den Weg Richtung Haustür nahm. «Ah öndlich», sagte Stefan, «mein Mann kommt heim.» Er machte sich auf, Tom zu begrüssen und Lou und ich schmunzelten uns verstohlen an und setzten das Gespräch über Klaie fort. Es dauerte eine Weile, bis die beiden zu uns kamen, von der Katze befreit, machte sich Stefan sofort an seine offene Baustelle und Tom begrüsste Lou und mich erstmal sehr innig. «Ah, endlich wieder Heimatboden unter den Füssen», seufzte er. «Pubertierende Katholen strengen an.» «Das war Deine Wahl», entgegnete Lou trocken, um dann aber doch interessiert nachzufragen: «War es denn neben der Anstrengung auch lohnend?» «Ja, Lou, das ist es eigentlich immer. Das Felsenrainkloster ist so abgelegen, da müssen sie vor Ort bleiben und ich kann da auch manch ernsthafte Debatte über Glauben, Kirche und Jungsein führen. Aber entschuldigt, ich hätte jetzt gern einen Themenwechsel, wie ich von Stefan schon ansatzweise gehört habe, hat sich ja einiges getan in meiner Abwesenheit.» Wir brachten ihn kurz zusammengefasst auf den neuesten Stand und zum ersten Mal sah ich ihn mit offenem Mund zuhören, das war sonst meine Art.

Als er sich wieder gefasst hatte, galt seine erste Frage Stefan: «Schon was von unseren Leuten gehört? Ist irgendetwas passiert?» «Nö», war seine kurze Antwort. Da brachte ich ihm meine Neuigkeit noch nahe: «Thomas hat vorhin angedeutet, dass die Aktion möglicherweise nicht der Antifa galt, sondern dem Verursachen allgemeinen Chaos, warum und wieso, das wusste er aber selber noch nicht. Aber offenbar hat der tote Attentäter damit was zu tun.» «Du meinst den Bruder vom Polizeipräsidenten?» «Ja der, aber eben, Thomas meinte, er müsse da noch was ordnen.» «Seltsam, seltsam», meinte darauf Tom und auch Stefan blickte irritiert in unsere Runde. Mohrle brachte uns alle auf andere Gedanken, sie sauste auf einmal wie ein geölter Blitz auf die Terrasse und mit voller Wucht auf Toms Schoss, sie hatte offensichtlich grosse Sehnsucht nach ihm, nach so langer Zeit. «Ja hallo Mohrle, du herziges Tier, schön Dich auch wieder zu sehen.» Tom war erstmal damit beschäftigt und wir liessen in aller Ruhe einen Joint zirkulieren und schlürften unsere Sektgläser aus.

«So ich sollte», liess sich alsdann Lou vernehmen, «erstmal Kartoffeln und Nudeln kochen für ein paar leckere Salate. Wenn die bis morgen ziehen können, sind sie noch leckerer.» «Mmmmmhh», machte ich und mir lief bereits das Wasser im Munde zusammen. Lou bemerkte das und meinte nur: «Geduld Ritchie, Du kannst Dir Deinen Bauch dann morgen vollschlagen.» «Aber Vorfreuen wird doch erlaubt sein?» entgegnete ich ihr und sie nickte nur belustigt.

Wir Männer blieben auf der Terrasse sitzen, Hilfe konnte Lou ohnehin nicht beim Kochen leiden und wir genossen die Sommersonne, die jetzt über uns schien und da wir alle etwas Schlafdefizit hatten, dösten wir gemütlich vor uns hin. Bis dann die Klingel uns aus der Entspannung holte. Uff, es war bereits kurz nach vier und das musste Thomas sein. Blitzschnell war ich wieder wach und stürmte zur Tür, um ihn reinzulassen und zu begrüssen. Mohrle folgte mir auf den Fuss.

Schnellen Schrittes kam er die Treppen hoch, in seinen Bluejeans und einem legeren Hanfhemd, das er über der Hose offen trug und war nur zum Anbeissen, mit grossen Armen begrüsste er mich, drückte mich fest an sich und flüsterte sanft: «Ah daheim.» Mir fehlten glatt die Worte und ich liess es bei einem festen Drücken. Dann sah er Mohrle, ich hatte ihm bereits von ihrem Ritual erzählt, so dass er fragte: «Darf ich? Ich muss mich doch Liebkind bei ihr machen.» «Nur zu.» So warf er ihr eine kleine Ration hin, bevor er ganz in die Wohnung kam und ich die Türe schliessen konnte. «Das sieht hier aber grosszügig aus», kommentierte er seinen ersten Eindruck. «Es wird noch besser, Thomas. Komm ich zeig Dir unsere WG.» Und so machte ich einen Rundgang mit ihm, beginnend in meinem Zimmer, wo er seine Reisetasche ablegte. Das grosse Bett fiel ihm sofort auf: «Bequem und nützlich», feixte er und als er meine Holzschränke und die Regale sah, fragte er: «Wagner?» «Ja natürlich, wenn ich schon einen Schreiner im Haus hab, nur der Schreibtisch ist ein Erbstück. Von meinem Grossvater.» «Passt ja irgendwie nicht so sehr, aber im Gesamtbild doch gemütlich. Und die Bilder? Von Mia?» «Exakt, aus ihrer frühen Periode. Hoppalla, das klang jetzt falsch, aus ihrer Frühzeit. Ich mag diese kräftigen Farben und die abstrakten Motive.» «Hast Du gesehen», fragte er mich, «einige meiner Möbel sind auch von ihm. Die sind superpraktisch und formschön.» «Ja, das hatten wir doch schon, er kann das wirklich gut, auch wenn er fast nie über seine Arbeit spricht. Aber wenn, dann kann er Dir genau erklären, was Du brauchst und warum das so auszusehen hat.» Dann kam mein Bad mit der Gemeinschaftswanne dran, danach die kleine Abstellkammer, die ebenfalls vom Flur abging. Dann Lous Zimmer mit den klaren Farben in Blau und Gelb, und ihr Bad, das vom Zimmer abging. Überall nickte er zustimmend. Dann das Pärchenzimmer, inklusive Sportgeräten und dem grossen Kreuz mit drangehängtem Rosenkranz, das er mit den Worten kommentierte «Ora et labora!» und ich nur erwiderte «Ja jede Art von labora!». Auch sie hatten ein eigenes Bad, vom Zimmer aus zugänglich. Und dann die grosse Wohnküche, mit der neuen Küche, dem grossen Holztisch, auch ein Werk von Stefan, dem grossen Sofa, von dem aus der Blick entweder in die Küche ging oder auf den Fernseher, je nachdem auf welcher Seite man Platz nahm. Hier begrüsste er dann auch Lou, sie hatte aber alle Hände voll und so gabs nur ein Wangenküsschen. Und schliesslich zur Terrasse und zu den beiden mittlerweile auch wieder im Gespräch vertieften. «Hoi Ihr Zwei, schön habt Ihr es hier.» «Ach Du warst noch nie hier?» «Nein, Tom, heute das erste Mal, beeindruckend. Und so gemütlich und dennoch modern eingerichtet. Alle Achtung.» «Danke, Thomas. Willst Du auch vom Joint?» fragte Tom ihn einladend. «Oh gerne, ich muss diese Eindrücke aus Nieder-Bergen abschütteln. Menno, ist das ein Kaff geworden. Es bröckelt an allen Ecken, die Farben verblichen und Abfall allüberall. Und erst der Nahverkehr – eine einzige Katastrophe. Ich bin dann auf Taxi umgestiegen, billig, aber die Fahrer nur unfreundliche Gesellen.» «Na dann hörzlich willkommön zurück in dör Zivilisation», meinte Stefan trocken und reichte ihm die versprochene Entspannung. «Nimm doch Platz, Thomas», lud Tom ihn ein und er setzte sich dorthin, wo ich vorhin grad noch war, aber das passte, so konnte ich mich auf die Stuhllehne setzen und seine Nähe geniessen. Mein Blick ging in die Küche und als ich Lou mit all den Sachen sah, fiel es mir brennend ein: «Leute, wir müssen noch für morgen Freundinnen und Freunde einladen. Lou will eine richtige Kücheneinweihungsfeier machen. Habt Ihr Vorschläge?»

Die Frage war offenbar erstmal eine Überforderung. Nach einigem Zögern meinte Thomas: «Darf ich auch jemanden einladen?» «Aber sicher, an wen denkst Du?» «An Roberta aus meiner Redaktion, war bis vor kurzem noch Robert. Der ist durch ihre Entscheidung, endlich als Frau leben zu wollen, fast der gesamte Freundeskreis auseinandergebrochen, vielleicht findet sie dadurch wieder Anschluss.» «Ja sicher Thomas», antwortete ihm Tom, «die passt doch gut zu unserem bunten Haufen. Was ist mit Deiner Natascha, Ritchie?» «Ja, soweit war ich bereits mit Lou, ich geb ihr gleich mal Bescheid, vielleicht bringt sie noch ihre aktuelle Eroberung mit.» «Und wir laden Heinar ein, was Stefan? So als Belohnung für die letzte Aktion?» «Ja gutö Idöö.» Und so wurden noch ein paar Namen hin und her diskutiert und angeschrieben, so dass wir dann auf gut 20 Personen anwachsen sollten. Inmitten unserer Diskussion über die Einladung klingelte unser Festnetzanschluss. Das kam selten vor und meist nur, wenn uns irgendwelche Firmen dubiose Angebote unterbreiten wollten. «Göh Du ran, Du kannst am fiesöstön Abwimmöln», forderte mich Stefan auf, ran zu gehen. «Danke für die Blumen», rief ich ihm auf dem Weg in die Wohnung und zu unserem Telefon noch zu.

Dann meldete ich mich mit ungewohntem «Hallo.» «Guten Tag, hier ist Koller, mit wem spreche ich bitte?» «Guten Tag Herr Koller, hier ist Gaffer, Richard Gaffer, was verschafft mir die Ehre?» Es entstand eine unerwartet lange Pause, dann ein sehr zögerliches: «Herr Gaffer?» «Ja Herr Koller, wen hatten Sie denn erwartet?» «Ist das nicht der Anschluss von Stefan Wagner und Tom Hebmann?» «Ja ist es, aber auch der von mir und Louise Hager.» Wieder Stille, im Hintergrund hörte ich ihn aber auf seinem Computer tippen. Ich schaltete mittlerweile auf Lautsprecher um, ging wieder auf die Terrasse und deutete den anderen an, zuzuhören. Sofort war es mucksmäuschenstill. Dann Koller wieder: «Ah jetzt sehe ich das in unserem System, Sie sind eine WG. Das hätte ich auch vorher machen können. Aber passt schon, Sie hätte ich ohnehin auch noch angerufen, Herr Gaffer.» «Aber um was geht es denn, Herr Polizeipräsident?» Die anderen mussten sich ein Kichern verkneifen. «Ja, wie gesagt, ich wollte Herrn Wagner und Herrn Hebmann sprechen, sind sie da?» «Ja die sitzen gerade neben mir, ich habe mir erlaubt auf Laut zu schalten, sie hören mit.» «Ah gut, hallo Herr Wagner, hallo Herr Hebmann.» «Hallo Herr Koller», antworteten Stefan und Tom synchron. «Ich hätte etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen, möchte das aber nicht am Telefon tun, kann ich so in einer Stunde bei Ihnen erscheinen?» «Ja sicher», rief Tom, «wir sind da.» «Ah Danke.» Dann wieder Stille und dann ein merkwürdiges Murmeln. «Ich habe Sie gerade nicht verstanden, Herr Koller, ist noch was?» «Ah Entschuldigung, ich habe gerade mehr mit mir selbst gesprochen, dass ich dann noch Herrn Weissburg anrufen sollte.» «Guten Tag Herr Koller», rief Thomas in Richtung Telefon. «Ich fresse einen Besenstiel, wenn das gerade Herr Weissburg war», hörten wir Koller, immer noch nicht ganz entschieden, ob das uns galt oder sich selbst. «Doch ich bin es, Herr Koller, Thomas Weissburg», klärte ihn Thomas auf und mir fiel nichts Besseres ein als: «Wie hätten Sie denn gerne Ihren Besenstiel? Medium oder durch?» Die anderen konnten sich das Lachen nun nicht mehr verkneifen, aber Koller blieb unberührt und meinte nur: «Na dann, alle auf einen Schlag, soll mir recht sein. Herr Gaffer, geht das, dass ich Sie alle vier und vielleicht auch gerade noch Frau Hager in einer Stunde sehen kann?» «Ja Herr Koller, wir werden alle hier sein.» «Gut, dann bis bald. Und Entschuldigen Sie meine Verwirrung.» «Keine Ursache, Herr Koller, bis später.» Ich legte auf. «Was war das denn?» fragte ich in die Runde. «Keine Ahnung», antwortete Tom: «Aber ich denke, er wird es uns in Kürze sagen.» Ich brachte das Telefon zu seinem Platz zurück und informierte Lou. «Was will der denn von mir?» Das `mir` betonte sie sehr intensiv. «Wir haben alle keine Ahnung, Lou.» «Wartet kurz, ich komm gleich raus zu Euch, bin hier mit der ersten Runde Vorbereitungen fertig.»

So sassen wir kurz danach alle recht ratlos auf unserer Terrasse und spekulierten ein wenig herum, aber so recht Schlaues mochte uns nicht einfallen. Stefans Telefongebimmel riss uns dann aus unseren Gedanken. «Vatör hallo.» Pause. «Vatör langsam, bittö, Vatör.» Pause. «Vatör bittö, ich vörstöhö kein Wort. Ja ich weiss, dass Mischa heutö mit Dir vörabrödöt war.» Pause. «Ah ös war söhr schön mit ihm.» Er stand auf, zuckte entschuldigend mit den Schultern und ging in die Wohnung, um in Ruhe sprechen zu können. Er war kaum drin, klingelte mein Telefon und Mischa war dran. «Schalömchen Mischa», meldete ich mich, er klang sehr aufgeregt, aber positiv aufgeregt und sprudelte nur vor sich hin. Aus all dem entnahm ich, dass der Nachmittag mit Stefans Eltern ganz fantastisch war und sie sich gut verstanden hatten. «Ah das freut mich doch sehr zu hören», konnte ich in einer seiner Atempausen platzieren. Nach einer Weile unterbrach ich ihn und meinte: «Mischa, Du bist gerade so aufgeregt, ich verstehe nur die Hälfte von dem, was Du sagst. Aber ich hab einen Vorschlag, komm doch morgen ab elf Uhr zu unserem Brunch. Das wird zwar eine grössere Party, aber das passt doch zu Deiner guten Stimmung.» «Oh Danke, Ritchie, ja ich komme gerne. Entschuldigung meine Aufregung, aber das war so toll heute und ich wollte Dir einfach Danke sagen, dass Du das möglich gemacht hast.» «Na das war nur Zufall, ich hatte da gar nicht viel damit zu tun. Aber es freut mich sehr für Dich.» «Na wenn Du nicht so geistesgegenwärtig gewesen wärst, aber mehr sicher dann morgen noch. Soll ich etwas mitbringen? Irgendeine koschere Köstlichkeit?» «Oh bitte nicht. Nicht dass ich gegen deine Köstlichkeiten etwas hätte, aber unsere Lou kocht bereits wie eine Weltmeisterin und ich wette, Du wirst sogar noch ein Fresspaket mitbekommen.» Er lachte und dann fiel mir doch noch was ein, was er mitbringen konnte: «Ach Mischa, doch etwas könntest Du mitbringen:» «Ja gerne, was?» «Bring doch Sarah mit. Die ist doch noch nicht so lange in Klaie und hat sicher Freude an unseren Leuten.» «Ah noch eine tolle Idee von Dir, ja ich lade Sie gerne ein. Danke. Dann also bis morgen.» Er wartete gar nicht meine Verabschiedung ab und so legte ich mit einem breiten Grinsen das Telefon auf und verkündete: «So noch zwei, die morgen kommen werden, Mischa und Sarah.» «Super», tönte es einstimmig. Dann kam Stefan zurück und verkündete: «Meinö Öltörn kommön morgön auch, wönns röcht ist.» «Ja ist es», antwortete Lou, «es hat genug zum Essen und zum Trinken da, und je mehr Leute desto besser.» «Und Mischa kommt auch», klärte ich Stefan noch auf und er hob die Daumen zustimmend in die Höhe.

Für den Empfang des Polizeipräsidenten begaben wir uns vorsorglich schonmal in die Wohnung und nahmen um den grossen Tisch Platz. Lou stellte eine grosse Flasche Wasser und Gläser auf. «Bin gespannt wie ein Flitzebogen», sagte Lou in die eingetretene Stille. «Flitzebogen? Aus welchem Jahrhundert bist Du denn?» lästerte Thomas und erntete einen bösen Blick von Lou. Dann klingelte es auch schon an der Haustür, ich kümmerte mich um Mohrle, das Ritual wollte ich Koller dann doch ersparen. Er kam kräftigen Schrittes nach oben und zu unserer Tür, wo ihn Tom empfing. «Herr Hebmann?» «Ja.» «Guten Tag.» «Herr Koller, guten Tag, kommen Sie doch rein.» Koller war wieder in einem gut sitzenden Anzug samt Gillet und Krawatte unterwegs und auch heute fiel mir auf, dass er durch seine Diät in der Tat ein Mann zum Vernaschen geworden war – so rein physisch.

Er begrüsste alle mit Namen und Lou bat ihn, doch Platz zu nehmen, was er dankend annahm. «Wasser? Wir hätten aber auch noch Kaffee, Saft, Wein oder Whisky da», bot sie ihm eine Auswahl an. «Wasser ist bestens, Danke. Ich bin ja noch im Dienst.» Wir nahmen nun auch wieder Platz und starrten gebannt auf Koller. «Ja nun, ich weiss gar nicht recht wie ich anfangen soll. Vielleicht muss ich die eine oder andere Schleife drehen, aber ich versuche, gerade mittendrin loszulegen.» Er sah fragend in die Runde und wir nickten zustimmend.

«Sie haben ja alle mitbekommen, dass es in jüngster Zeit zu Übergriffen ungewohnten Ausmasses in Klaie gekommen ist.» Wir nickten erneut. «Nun, seit heute scheinen die Gründe klarer. Es gibt offenbar Kreise in der Stadt Klaie, die im Verbund mit Gesinnungstätern aus Nieder-Bergen bestimmte Leute aus ihren Funktionen haben und bestimmte Einflussnahmen stoppen wollen.» Wir sahen uns fragend an, Tom unterbrach die Pause und fragte nach: «Werden Sie später noch konkreter oder sollen wir uns selbst etwas zusammenreimen?» «Entschuldigung Herr Hebmann, ich sagte ja, es ist etwas schwierig für mich.» Er schnaufte schwer. Dann knüpfte er seine Krawatte auf und sagte: «Ach was solls. Steht das Angebot mit dem Whisky noch?» Wir schauten uns erstaunt an und ich eilte los und schenkte ihm ein grosses Glas ein. Vorsorglich liess ich die Flasche gleich auf dem Tisch stehen.

«Ab jetzt bin ich als Privatperson hier», machte Koller weiter: «Ich werde erpresst und wie es aussieht, soll diese Erpressung nicht nur mir gelten, sondern auch Herrn Friedrich Gaffer. Sie sind ja nicht mit ihm verwandt, Herr Gaffer, wenn ich das richtig weiss?» «Nein Herr Koller, nicht verwandt», antwortete ich während er in seine Anzugstasche griff, einige Bilder rausholte und auf den Tisch verteilte. Er sagte noch nichts und wir betrachteten die Bilder. Sie zeigten den alten Gaffer, wie er ein grosses, dickes Kuvert Koller zuschiebt und wie dieses Kuvert in Kollers Aktentasche verschwindet.

«Sie haben sich also bestechen lassen, Herr Koller und dies beweisen diese Aufnahmen?» Es war wieder Tom, der die Stille unterbrach. «So sieht es auf den ersten Blick aus und ich danke, dass Sie diesen Eindruck bestätigen. Denn so wird es auch die Öffentlichkeit sehen.» «Das heisst offenbar, Sie werden jetzt gleich sagen, dass das nicht stimmt? Sind es denn manipulierte Bilder?» fragte ich. «Nein, das sind keine Fake-Bilder, wie das neuerdings ja heisst, die Situation ist tatsächlich so passiert. Nur, dass in dem Kuvert kein Geld ist, sondern Dokumente von Herrn Gaffer. Sehen Sie, die Bilder sind fast genau drei Jahre alt. Herr Gaffer und sein Imperium befanden sich damals bereits kurz vor dem Konkurs. Und in dieser Zeit häufte es sich, dass die Gaffer-Group zahlreiche Bauausschreibungen gewann und wie wir ja später erfahren haben, er damit den Rest der Holding sanierte, bis auch dies nicht mehr reichte und es erst durch das Geld seiner neuen Frau zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Gaffer-Group kam.» Wir staunten nicht schlecht ob seiner klaren Analyse und klebten an seinen Lippen. «Dass das die anderen Baulöwen in Klaie und Umgebung nicht kalt liess, können Sie sich denken. Sie haben damals dann Herrn Gaffer unverhohlen gedroht. Ohne allerdings stichhaltige Beweise für Korruption zu haben. In diesem Kuvert befanden sich Briefe, Telefonanrufe und anonyme Drohungen, die Herr Gaffer erhalten hatte beziehungsweise aufgezeichnet hatte, so wie eine detaillierte Aufstellung seiner Vermögenswerte und die Einnahmen aus seinen Bauprojekten.»

«Na dann soll dör Altö das doch richtig stöllön», meinte Stefan knapp zu diesen Ausführungen. «Das wird er bei Bedarf sogar machen, aber Sie wissen ja, es bleibt bei solchen Vorwürfen immer etwas hängen. Und ich bin auch noch nicht am Ende meiner Geschichte.» Tom schenkte ihm nach, denn er hatte mittlerweile das erste Glas leer und sich die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes aufgemacht. Auch uns goss Tom nun Gläser mit Whisky ein.

«Danke», sagte er knapp, dann zog er aber auch sein Sakko aus und hängte es über den Stuhl. «Entschuldigen Sie bitte meinen legeren Auftritt, aber vielleicht wird das ja bald meine Standarderscheinung.» Er lachte bitter auf. Wir stiessen schweigend mit ihm an und liessen ihn weiter ausführen.

«Gaffer und ich, das ist ja eine komplizierte Sache.» Er blickte uns an. «Ja ich sehe das in Ihren Blicken, ich kenne meinen Ruf in der Stadt, ich gelte als Hampelmann der Gaffers. Aber die Wahrheit ist, ich bin zwar Dank seines Engagements in das Amt des Polizeipräsidenten gekommen, habe aber politisch nie seine Ziele geteilt oder tatkräftig unterstützt. Meine Politik des Ausgleichs zwischen den radikalisierten Rechten und den Linken hat mehrheitlich zur Ruhe in der Stadt geführt und allzu grosse Pendelausschläge in die eine oder andere Richtung verhindert. Sie Herr Hebmann und Sie Herr Wagner können hoffentlich bestätigen, dass wir niemals in besonders aggressiver Weise gegen die Antifa vorgegangen sind? Auch nicht letzte Woche, nach ihrem theaterreifen Auftritt in der Kurzstrasse?» Tom und Stefan schauten sich ein wenig wie ertappte Schulbuben an und Tom und reagierte knapp: «Nein, aggressiv nicht. Aber dafür haben Sie, unserer Ansicht nach, auch den Faschos zu viele Freiheiten gelassen, und es war eher die Antifa als die Polizei, die dafür sorgte, dass es hier nicht extremer wurde.» «Nun, ich kann Ihre Weltsicht nicht klar widerlegen. Meine Sicht ist verständlicherweise etwas anders. Aber zurück zu meiner Amtseinführung. Ich war ein typischer Karrierepolizist und stand bereits kurz vor der Ernennung zum Präsidenten. Dann kam diese verheerende Wahl mit der absoluten Mehrheit für die Rechten und für die war ich buchstäblich das rote Tuch.» Tom und Stefan lachten schmerzhaft auf: «Sie ein rotes Tuch?» «Nun ich sagte ja, buchstäblich, ich komme ja aus der Mitte, auch wenn ich dort niemals Parteimitglied war. Aber für die Rechten war und ist die Mitte fast schon rot. Gaffer hat mit seinen Kontakten zu den Rechten dafür gesorgt, dass sie für mich stimmten. Die wollten ja diese Frau aufstellen, eine Marionette ihres Mannes, der – na ich sag mal so – wegen seines rüpelhaften Benehmens nur schwer in die erste Reihe der Politik hätte gehen können. Mit Gaffers Werben und dem Eindruck, den diese Frau hinterlassen hat, fiel die Wahl dann auf mich. Das war eigentlich Alles. Danach hatte ich nur noch einmal direkt mit ihm zu tun, als er mir dieses Kuvert übergab.»

«Selbst, wenn das Alles stimmt, Herr Koller», nun brachte sich Lou ins Gespräch ein, «und Sie werden verstehen, dass ich aus dem Bauamt da andere Gerüchte kenne, dann läuft doch diese Erpressung rasch ins Leere?» «Das ist es halt. Das ist nur ein Teil der Erpressung. Teil Zwei ist mein Bruder, Teil Drei Strafanzeigen gegen die Antifa.» Tom und Stefan zuckten zusammen und Koller schenkte sich nun selbst nach. «Teil Zwei, Sie von der Antifa wissen das ja, mein Bruder war der Attentäter, der 1982 die Bombe im jüdischen Kindergarten in Nieder-Bergen hochgehen liess. Und sie wissen auch, dass», seine Stimme schwoll urplötzlich stark an, so dass er fast schrie, «dieser Saufascho Hirtner den Plan ausgeheckt hat! Der hat meinen unschuldigen Bruder zu der Tat verführt! Mit falschen Versprechen! Wenn mir dieses Dreckschwein je unter die Finger kommt!» Wir waren wie versteinert, Koller leerte sein Glas und sprach dann in normalen Tonfall weiter: «Entschuldigung, aber diese Pest, die heute als Staatsanwalt in Nieder-Bergen waltet, hat nicht nur meinen Bruder damals zu der Tat angestiftet, ich bin sicher, er hat auch veranlasst, dass er in der Strafvollzugsanstalt ermordet wurde.» Jetzt griffen wir zum Whisky und leerten unsere Gläser in einem Zug.

Ich versuchte mir das eben Gehörte irgendwie zusammenzureimen, gab dann aber rasch auf und fragte Koller direkt: «Herr Koller, wie hängt das aber jetzt zusammen? Mir ist das zu hoch.»

«Also simpel ausgedrückt, Herr Gaffer. Die Tatsache, dass mein Bruder der Attentäter war, das wusste bereits Gaffer, er hat das aber, wie vorhin schon gesagt, nie gegen mich verwendet. Gaffer ist ein korrupter Mensch, was seine Geschäfte angeht, aber menschlich lass ich nichts über den gehen. Bei seinen Söhnen kann ich das nicht so sagen, aber dazu möchte ich später noch kommen. Hirtner wusste das selbstverständlich auch und er wusste dank seiner Funktion und dank einiger von ihm Abhängigen bei der Nationalen Polizei, dass ich all die Jahre den Kontakt zu meinem Bruder nicht abgebrochen habe. Ich habe ihm zum Teil sogar Verstecke und Bargeld besorgt. Aber er war immer schon ein Taugenichts und ist aus dem kriminellen Sumpf nicht herausgekommen – aber es lief nie auch nur eine Anzeige gegen ihn. Bis zu dieser Tankstellengeschichte, die aber auch noch nicht aufgeklärt ist. Aber meine Güte, er war mein Bruder, das konnte ich doch nicht ignorieren.» Er schluchzte und stand eindeutig kurz vor den Tränen. «Könntö einö Tütö Ihnön ötwas hölfön, Hörr Kollör?» fragte darum Stefan den Polizeipräsidenten, der mittlerweile wie ein Häufchen Elend bei uns in der Wohnküche sass und bereits unser Mitleid hatte.

«Ja gerne, ich bin so frei, Danke. Sie sehen, mit dieser Geschichte bin ich durchaus erpressbar und Hirtner wird sicherlich genügend belastendes Material gegen mich haben. Und mit dem Tod meines Bruders hat er gedacht, er könnte den letzten Zeugen ausschalten.» Er drehte wieder seine Stimme auf: «Dieser Saufascho wird sein blaues Wunder erleben! Ich mag untergehen! Aber er wird das auch nicht überleben! Nicht als Vertreter des Staates!»

«So beruhigen Sie sich doch bitte wieder, Herr Koller. Sie stehen ja kurz vor einem Infarkt.» Lou sprach in ihrer sanftesten Stimme zu ihm und Stefan reichte ihm den Joint, den er erstmal bis zur Hälfte aufrauchte, bevor er wieder das Wort ergriff: «Ich möchte es jetzt kurz machen, Teil Drei ist, dass Hirtner nach der Ermordung meines Bruders dafür sorgte und sorgen will, dass Klaie ins Chaos verfällt, die homophoben Überfälle, der Angriff auf Sie, Herr Gaffer und Ihre jüdische Gruppe, das Stehlen der Daten der Antifa…» «Woher wissen Sie, dass uns Daten gestohlen wurden?» Tom war reichlich überrascht. «Na, was glauben Sie, was mir heute die `Nationale Aktion` und ihr Klaiener Splitter `Bewegung für ein freies Klaie` an Dokumenten zugesandt haben? Unter anderem die komplette Adressliste Ihrer Mitglieder.» «Das war also Ihre Absicht», kommentierte Tom, «nicht unsere Mitglieder direkt anzugreifen, sondern die Polizei das machen lassen.» «Ja so sehe ich das auch. Und können Sie mir meinen persönlichen Verdacht bestätigen, dass einer der Gaffer-Söhne irgendwie daran beteiligt war?» «Ja das kann ich, Herr Koller, zumindest indirekt», antwortete ich. «Er hat, wohl während eines Besuches hier, die Wohnung ausspioniert und einen seiner Lakaien hierhergeschickt.» «So in etwa habe ich mir das gedacht. Wir wissen aus unseren Quellen, dass Herwig Gaffer seinen Vater aus der Firma drängen will, die Bauabteilung aus der von Ruth Rosenzweig-Gaffer geführten Holding herauslösen will und dann wieder Frieden mit den Nationalisten herstellen möchte.» «Und was sollten sich die Faschos davon versprechen?» fragte ich. «Ganz einfach: Jobs. Ob als Wachposten an den Baustellen oder als Arbeiter bei den Bauprojekten selber. Die meisten von denen leben ja irgendwie auf Staatskosten, so hätten sie ein Einkommen und die Bewegung legales Geld, wenn die denn brav spenden. Aber ich bin vom Pfad abgekommen, das Chaos. Damit will Hirtner zeigen, dass ich nicht als Polizeipräsident tauge und mich hier loswerden. Wenn ich Beweise gegen ihn habe, so kann ich die nur im Amt einbringen.» «Haben Sie denn welche?» wollte Tom wissen. «Dazu möchte ich im Moment nichts sagen, Herr Hebmann.» Er zog noch einmal am Joint.

«Und das andere, was Hirtner zeigen will, ist, dass selbst Klaie für rechtes Gedankengut empfänglich ist. Er hofft wohl auf so einen Dominoeffekt, wenn genügend braune Gewalttaten hier passieren, schliessen sich immer mehr solchen Bewegungen an und schwupps, sind wir das Nieder-Bergen mit einer Million Einwohner.»

Wir starrten ihn erneut an und schnauften alle fest durch. Dann wurde Koller nochmal förmlich: «Herr Hebmann, Herr Wagner, jetzt komme ich zum für mich sicher unangenehmsten Teil meines Besuches. Ich möchte Sie formell um Hilfe bitten.» «Ja wie denn, Herr Koller?» fragte Tom. «Nun, ich und die Polizei in Klaie haben zwar einiges Material über die `Nationale Aktion` und die anderen extremen Gruppen gesammelt, aber ich bräuchte für ein wirksames Vorgehen etwas mehr hieb- und stichfestes. Kann ich auf Sie zählen? Zum Beispiel mit Auswertungen aus den Rechnern von der Aktion an der Kurzstrasse?»

Stefan und Tom sahen sich lange schweigend an: «Das ist viel vörlangt, söhr viel», antwortete Stefan als Erster. Tom ergänzte: «Sie werden verstehen, dass wir das nicht sofort entscheiden können. Ich möchte mich eben mit meinem Mann zurückziehen und auch ein paar andere Mitglieder informieren.» «Das ist mir klar und dafür habe ich Verständnis. Ich weiss, wie Ihre Gruppe über mich und die Polizei denkt, aber vielleicht können wir hier mal ein gemeinsames Ziel verfolgen?»

Stefan und Tom gingen in ihr Zimmer und Lou und ich sassen einen Moment schweigend mit Koller zusammen. «Hätten Sie wohl einen Kaffee für mich?» fragte Koller dann. «Aber sicher doch, Herr Koller», antwortete ich und startete die Maschine. «Frau Hager, mit Ihnen wollte ich ohnehin noch über etwas anderes sprechen, es geht um Vorgänge im Amt. Kann Herr Gaffer hierbleiben oder wollen Sie das lieber privat besprechen?» «Nein, das ist okay, wenn Herr Gaffer dabei ist, wir sind hier fast wie eine Familie und haben keine Geheimnisse voreinander.» «Nun gut, dann. Wir wissen, dass Herr Gaffer und Frau Baumann seit einigen Jahren ein – nun – ach nennen wir es doch beim Namen, die beiden vögeln zusammen zum gegenseitigen Vorteil. Und der Polizei ist das egal, so ohne Beweis einer tatsächlichen Bestechung, wer da mit wem was hat, und Beweise haben wir nicht. Aber es sind offenbar kompromittierende Bilder der beiden im Umlauf und ich weiss nicht, ob ich heute der einzige war, den man zu erpressen versucht hat.» «Ich verstehe nicht ganz», meinte Lou, doch mir schien das klar und ich meinte: «Wollen Sie andeuten, dass Herwig Gaffer bei seinem Versuch, die Bauabteilung seines Vaters zu übernehmen, sogar seinen Vater ans Messer liefert?» «Genau Herr Gaffer, das denke ich. Ich wollte Frau Hager damit nur vorwarnen, dass es möglicherweise die nächsten Tage turbulent werden könnte.» «Ach herrjeh, noch mehr Mist», Lou stöhnte laut auf. «Aber Danke für den Hinweis, Herr Koller. Stehe ich denn auch im Verdacht oder wird gar gegen mich ermittelt?» «Nicht, dass ich wüsste, aber die Staatsanwaltschaft ist ja eine autonome Behörde. Doch soweit meine Kenntnisse reichen, sollen wohl Untersuchungen bei der Kommission für Ausschreibungen demnächst anlaufen. Sie sollten daher allenfalls als Zeugin eine Rolle spielen müssen.» Dankend nahm er den Kaffee entgegen, den ich ihm reichte und trank ihn gerade so. «Ich wollte Ihnen noch Milch oder Zucker anbieten, Herr Koller.» «Nein Danke. Ich trinke ihn stets nur schwarz. Falls Herr Hebmann und Herr Wagner mir helfen können, müsste ich nachher noch ins Präsidium, da sollte ich etwas klarer wirken.» Er lachte endlich mal wieder.

«Und nun noch zu Ihnen Herr Gaffer. Das wollte ich Ihnen auch lieber persönlich mitteilen. Sie und Ihre Vereine haben sich ja die letzten Jahre oft genug über mangelndes Engagement bei Gewalt gegen queere Menschen beschwert. Glauben Sie es mir – oder glauben Sie es mir auch nicht, das spielt aktuell keine Rolle, aber ich habe mich immer wieder um mehr Präsenz bemüht, aber im Polizeiapparat hatte es stets heftige Widerstände. Doch nach den Attacken aus Nieder-Bergen konnte ich bereits gestern 18 Korpsmitglieder in zivil auf Streife bei den uns bekannten HotSpots schicken. Und auch heute sind es wieder 18. Von Sonntag bis Donnerstag wurden mir immerhin noch zehn bewilligt.» «Na das sind ja gute Nachrichten, Herr Koller, ich hoffe, es kommt heute zu keinen Zwischenfällen. Von gestern ist mir nichts bekannt geworden.» «Bei uns sind auch keine Anzeigen eingegangen. Wir sind uns aber auch nicht sicher, ob sie im Moment aktiv sind. Ihre Leute beim Gewalttelefon sind jedenfalls durch unsere queeren Polizistinnen bereits informiert worden.»

«Danke für Ihr Engagement. Jetzt, wo Sie gerade hier sind, darf ich Sie doch noch was persönliches fragen?» «Nur zu Herr Gaffer, wenns zu persönlich wird, verweiger ich einfach die Antwort.» Er grinste mir frech entgegen. «Nun denn Herr Koller, was ist an den Gerüchten dran, dass Sie Frauen und schwule Männer und generell queere Menschen bei der Beförderung benachteiligen? Und was, dass es damit zusammenhängt, dass sie selbst schwul seien, dies aber verheimlichen wollen?» Koller machte grosse Augen und sah sehr verdattert aus: «Das wird über mich gesprochen? Das ist ja mal was ganz Neues. Na zuerst – ob es sie beruhigt – oder enttäuscht Herr Gaffer, ich habe schon auch Ihre Blicke seit meiner Diät bemerkt, ich lebe seit über 15 Jahren mit der gleichen Frau zusammen und hatte davor auch nur etwas mit Frauen. Meine Freundin ist Chefin einer Biotechfirma, die global aufgestellt ist, deswegen haben wir wenig gemeinsame Zeit und die verbringen wir so gut wie nie in Klaie oder in der Öffentlichkeit. Und das andere: Ja, da gabs einige Probleme, ich musste ja schon ein paar Mal vor die Gleichstellungskommission, aber nicht, weil ich mit Frauen oder queeren Menschen Probleme hätte, manchmal wurde ich von den Mitentscheidern für solche Vergaben ausgebremst oder es wurden schlicht formal die Kriterien nicht erfüllt. Bitte vergessen Sie nicht, dass sich einige queere Polizeikorpsmitglieder lange nicht getraut haben, das offensiv mitzuteilen und daher in der Karriereentwicklung etwas gehemmt waren. Aber ich will mich nicht rausreden, vielleicht habe ich es mir auch hier und da zu leicht gemacht.»

Wir waren ziemlich sprachlos, wie der sonst so steife Koller auf einmal menschliche Züge zeigte. Lou brachte es dann doch noch auf den Punkt: «Wenn Sie im Amt bleiben, dann haben sich Sie ja jetzt selbst eine gute Aufgabe mitgegeben.» Er lächelte verlegen und war froh, dass in diesem Moment Tom und Stefan zu uns zurückkehrten und sie hatten einen Stapel Papier dabei.

«Nun Herr Koller. Wir werden Ihnen helfen», fing Tom an. «Sie sollten aber wissen, dass wir das ganze Gespräch aufgezeichnet haben, ich denke, das erstaunt Sie jetzt nicht wirklich.» Koller schüttelte den Kopf.

Zum ersten Mal brachte sich Thomas an dieser Unterhaltung ein: «Einen Moment noch bitte.» Alle blickten natürlich auf ihn. «Bevor es da zu schnell geht. Herr Koller, meine Quellenlage sagt an drei Stellen etwas anderes, als Sie hier dargestellt haben. Es geht um die Unabhängigkeit von Ihnen zu Herrn Friedrich Gaffer, meines Wissens gab es im Zusammenhang von Ausschreibungen, die die Gaffer-Group nicht gewonnen hat, ungewöhnlich viele Razzien durch Ihr Präsidium auf den Baustellen anderer Baufirmen.» Mein Blick, den ich Thomas zuwarf, war voller Bewunderung, wow, was hatte ich mir da für einen tollen Kerl geangelt? «Zweitens: Ihr Bruder sollte 1990 als dringend tatverdächtigt bei einem Überfall auf ein Lebensmittelgeschäft festgenommen werden und hat sich der Verhaftung unter Gewaltanwendung entzogen. Er sollte daher zumindest auf der Fahndungsliste gestanden haben. Und drittens: Bei Ihrer Wahl sind kurz vor der entscheidenden Abstimmung Dokumente aus Ihrem Präsidium aufgetaucht, wonach ihre Gegenkandidatin vor der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruches einen solchen vornehmen habe lassen, was bei der Positionierung der Rechten zu diesem Thema dann das Aus für sie war und Ihnen damit den Weg geebnet hat. Können Sie das so bestätigen?» Wir sahen Thomas mit grossen Augen an, der hatte aber gut recherchiert.

«Worauf wollen Sie damit hinaus?» Koller wirkte angeschlagen nach diesen Aussagen und fing deutlich zu schwitzen an. «Ich will auf zwei Dinge hinaus: ehrliche Antworten und zweitens eine Aussage darüber, dass das, was ich recherchieren konnte, eventuell auch Ihre Gegner herausfinden konnten oder bereits herausgefunden haben? Ich habe den Eindruck, Sie werden einen Gegenschlag lostreten und ich will sicher gehen, dass dieser nicht nach hinten losgeht?» Ich bewunderte ihn noch mehr, ja das war ein Mann.

«Ja dann.» Koller klang zerknirscht und überlegte, während wir gebannt auf ihn starrten. Dann nach einer Weile, kam es kleinlaut aus ihm heraus: «Ja Herr Weissburg, gut recherchiert. Aber über alle drei Sachverhalte gibt es keinen einzigen Hinweis, der zu mir führt. Die Razzien wurden von meinem Stellvertreter angeordnet, die Fahndungsliste galt nur für den Bezirk Nieder-Bergen und das mit dem Abbruch ist mir heute zum ersten Mal zu Ohren gekommen.» Nach einer Pause schob er noch nach: «Das würde ich auch so vor Gericht aussagen, aber jetzt schauen Sie bitte genau her.» Er streckte den Zeigefinger hoch und schüttelte den Kopf. Er erhob Zeigefinger und Mittelfinger und nickte zustimmend und dann nahm er noch den Ringfinger mit nach oben und nickte erneut.

«Okay, Danke Herr Koller. Tom, Stefan, ich denke, Ihr solltet ihm trauen.» Lou und ich sahen uns verständnislos an. Ich wollte aber den weiteren Vorgang nicht unterbrechen, sondern harrte der Dinge, die da noch kommen sollten.

Tom sah nochmals intensiv zu Thomas und als dieser langsam aber eindeutig nickte, begann er Koller mitzuteilen: «Hier haben wir für Sie unsere Unterlagen, allerdings lediglich auf Papier, um unsere Quellen und Zugänge abzusichern. Sie finden darin Adresslisten verschiedener rechter Aktivisten, Anschlagpläne und Beweisfotos, die diese Idioten für ihre Angeberei nutzen, E-Mails, Kontodaten und was Sie wahrscheinlich am meisten interessieren wird, Kontaktpersonen aus verschiedenen Strafanstalten im Lande, die irgendwann von Faschos bedrängt wurden, Sie verstehen?» «Ja sicher, haben Sie vielen Dank. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich im Amt bleiben werde, aber so oder so werde ich für ein grosses Getöse sorgen. Und sicher nicht zu Ihren Lasten.»

«Das ist ein gutes Versprechen, Herr Koller.» Das Gespräch mit seinen Antifaleuten hatte Tom deutlich spröder gegenüber unserem Besucher werden lassen. «Ich sollte aber nun auch los, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Unterstützung», begann Koller das Ende des Treffens einzuleiten. Er schüttelte nochmals unsere Hände, schnappte sich seine Kleider und die Unterlagen und war rasch verschwunden.

«Das ging jötzt schnöll», kommentierte Stefan und ich ergänzte: «Der will wohl noch ins Präsidium, vielleicht hat er gemerkt, dass seine Zeit im Amt knapp werden könnte.» «Mensch Ritchie, was hast Du denn getrunken, so scharf analysierend heute?» Tom zwickte mich bei seinen Worten. «Nicht so schnell», meinte ich, «denn eins habe ich nun wirklich nicht verstanden, was war das mit den Fingern?» «Ja das hab ich auch nicht kapiert, was war das denn für eine Übung?» fragte nun auch Lou.

«Eigentlich simpel, es waren drei Sachverhalte, die ich ihm präsentiert habe, und die hat er beantwortet, die erste wahrheitswidrig, also durch Kopfschütteln. Was heisst, ja, Gaffer hat ihn in der Hand gehabt und Handlungen eingefordert. Die anderen beiden Antworten sollte er wahrheitsgetreu gegeben haben.» «Ist ja schlimmer als in schlechten Krimis.» Lou unterstrich ihre Worte durch kräftiges Kopfschütteln. «Aber er hatte ja keine andere Chance, falls jemals die Aufzeichnung des Gesprächs in falsche Hände kommt, liegt nichts gegen ihn vor», gab Tom wieder den Aufklärer.

«Männer», wechselte nun Lou das Thema, «ich würde jetzt gerne weiterkochen. So gern ich Euch Vier auch habe, aber ich will mich hier austoben und brauche dazu keine Zuschauer. Wollt Ihr nicht rüber in Charlies Kneipe am Ostmarkt und mich hier in Ruhe kochen lassen? Ihr habt doch alle auch noch nicht zu Abend gegessen und hier geht das jetzt nicht.» Wir sahen uns an und nickten uns zu, ja das könnte ein guter Ausklang des Tages werden. Und es wurde ein guter, es war bereits nach zwei, als wir genug gegessen, geredet und vor allem getrunken hatten und uns nicht mehr ganz standfest zurückbegaben. Lou war bereits in der Küche fertig und wohl im Bett, wir taten es ihr gleich, in unseren jeweiligen Zimmern.

 

 

 

14 Auswertung

 

Wir Männer hatten vereinbart, dass wir spätestens um neun auf sein wollten, damit wir alle noch Lou bei den Vorbereitungen helfen konnten, oder wenn sie unsere Hilfe nicht brauchte, ihr wenigstens etwas Gesellschaft zu leisten. Thomas und ich waren aber bereits um Acht wach und hatten so genug Zeit, damit ich mich auf seine Brust legen, ihm sein fein gewachsenes Brusthaar kraulen und wir uns gegenseitig die schönsten Komplimente machen konnten. Kurz vor halb neun sahen wir uns lächelnd an und Thomas meinte: «So genug von unserer Teenager-Schwärmerei, wir sollten ins Bad und uns frisch machen.» Ich lächelte ihn an, voller Seligkeit und – tja – Verliebtheit. Er sprang aus dem Bett und ging aus dem Zimmer in mein Bad. Kurz darauf hörte ich das Wasser aus der Dusche plätschern. Als er zurückkam, begab ich mich unters Wasser und Punkt neun waren wir frisch und tiptop partymässig angezogen. Der Tag konnte kommen.

Im ganzen Flur roch es nach den verschiedenen wunderbaren Speisen, die Lou offenbar schon gezaubert hatte und als wir an Stefans und Toms Zimmer vorbeigingen, kamen auch die beiden heraus. «Guten Morgen, ausgeschlafen?» fragte ich und Tom antwortete: «Ja sicher, schon eine Weile, wir waren bereits produktiv.» Wir fragten erstmal nicht nach, in welcher Weise sie denn produktiv gewesen sein könnten, sondern begrüssten erstmal Lou. Sie hatte gerade ihre Hände in einer Schüssel und machte offenbar ihre legendären Hackfleischbällchen. Mohrle stand ihr fast zwischen den Beinen, bei rohem Fleisch vergass sie regelmässig ihre gute Katzenstube und maunzte herzzerreissend. Wir musste uns also vorsichtig an Lou heranpirschen, damit wir sie von hinten umarmen und ihr einen guten Morgen wünschen konnten. Ich war als letzter an der Reihe und gab ihr noch einen Wangenkuss. Sie blickte vorsichtig in den Raum und da Thomas weit genug von uns stand, flüsterte sie mir zu: «Tollen Fang hast Du da gemacht. Ich mag Deinen Kerl gut leiden. Sorry, Ritchie, dass ich anfangs so skeptisch war.» «Schwamm drüber», ich lachte sie an und freute mich, ob dieser Wendung.

Ich sah mich in der Küche um, Lou hatte ganze Arbeit geleistet, ich konnte drei verschiedene Kartoffelsalate und ebenso viele Nudelsalate ausmachen, dazu Schalen mit verschiedenen Blattsalaten und verschiedenen Saucen, mundgerecht geschnittenes rohes Gemüse mit verschiedenen Dips, diverse Nachspeisen, Müslis, selbst angerührte Joghurts und frisches Obst, teilweise ganz, teilweise geschnitten und natürlich eine üppige Käseplatte. Im Rohr brutzelte eine grosse Schweineschulter und duftete wunderbar und auf dem Küchentisch standen zwei belegte Bleche mit Pizza, die darauf warteten, zur passenden Zeit in den Ofen zu kommen. «Wow, Lou, Du hast Dich wieder einmal selbst übertroffen. Und kein Chaos hinterlassen», sagte ich anerkennend und die anderen gaben auch ihre Bewunderung kund. «Danke, einer von Euch müsste noch zum Bäcker, ich hab verschiedene Sachen bestellt, die brauchen nur noch abgeholt werden. Und wenn Ihr dann so gut wäret, das Geschirr herzurichten. Schaut mal, wo es noch Platz hat.» «Das könnte noch knifflig werden», entgegnete ich ihr mit einem Blick auf die vollgestellte Küche, «aber das schaffen wir schon.» Tom machte sich als Kaffeespender nützlich und reichte jedem von uns eine Tasse. «Ich spring schnöll zum Bäckör, Sonntags ist da immör dör heissö Frank an dör Thökö», sagte Stefan noch und war gleich darauf verschwunden. Ich blickte zum Fenster raus und meinte: «Schade, dass das Wetter nicht so mitspielt, sieht ja eher nach Regen aus.» «Ich hab vorhin den Wetterbericht gehört, soll ab Mittag wieder schön werden, wir starten einfach mal indoor und schauen, wies kommt, Platz hats aber hier drin auch.» Lou war auf Hochtouren und wir nahmen erstmal an den freien Stellen des Küchentisches Platz und schlürften unseren Kaffee. Es dauerte nicht lange und Stefan kam zurück: «Dör Frank ist krank, abör die Böstöllung hab ich dabei», teilte er uns mit und stellte zwei grosse Jutesäcke auf den Tisch, aus denen es köstlich nach frischem Brot und Gebäck duftete. «Lass die ruhig da stehen, ich verteil die nachher noch», sagte Lou und begann ihre Bällchen in der Pfanne zu braten. Und erneut wehte ein köstlicher Duft durch den Raum, diesmal nach Hackfleisch, Knoblauch und Kräutern.

Es war Lou, die dann das Gespräch wieder aufnahm: «Männer, können wir noch über den gestrigen Abend reden? Oder habt Ihr schon alles bei Charlie durchgekaut?» «Kein Wort, Lou», entgegnete Tom ihr und Stefan warf ein. «Viel zu öfföntlich.» Thomas ergänzte noch: «Und ehrlich Lou, wir wollten auch unbedingt Deine Sicht hören, und wir alle wollten auch eine Nacht darüber schlafen, das Bild ist ja sehr unklar und verworren.» «Was meinst Du genau?» fragte ihn Tom. «Na sammeln wir doch mal: Da ist das, was er gesagt hat, das steht für mich auf einem anderen Blatt. Doch wichtiger für mich ist: Was wissen wir über Koller und wie schätzen wir das ein?» «Nun er säuft wohl gerne», gab ich schmunzelnd in die Runde, «ich wollte ja beinahe schon den Whisky verstecken, gut hab ich nicht den ganz Guten rausgeholt.» «Und er sagt definitiv nicht immer die Wahrheit. Thomas hat ihn ja klar vorgeführt. Wer weiss, wo er sonst noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hat?» brachte Tom seine erste Zusammenfassung. «Ör kifft auch», das kam von Stefan. «Und was ist das für eine Geschichte mit seiner Freundin?» fragte Lou. «Das stimmt, so einigermassen», antwortete Thomas: «Die Frau, von der er sprach, ist Lisa Morell, die stammt aus Weissburg und war eine Spielkameradin meiner Mutter. Ist früh aus Weissburg weg und hat in der ganzen Welt studiert und diese Biotech-Firma aufgebaut. Eine toughe Geschäftsfrau, aber öffentlichkeitsscheu. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, so vor einem Jahr auf irgendeiner Innovationsveranstaltung unserer Uni in Klaie, da war sie gut in Form, vielleicht etwas zu viel Botox im Gesicht, aber für ihre fast sechzig mehr als ansehnlich.» Er machte eine Pause: «Sofern ich das als schwuler Mann beurteilen kann.» «Dann ist sie aber älter als Koller?» Lou bohrte nach. «Ja etwas, Koller ist auch schon 57, also viel Unterschied haben die nicht», klärte Thomas auf. «Hat man die beidön jö zusammön gösöhön?» fragte nun Stefan nach. «Ich lese ja gern die Klatschblätter, da hab ich nie etwas über die beiden gelesen und in der Stadtverwaltung gilt Koller eben den meisten noch als verkappter Schwuler, vielleicht ist es ja so eine Art Alibifrau?» brachte Lou ihr Wissen ein. «Wäre durchaus denkbar, das würde immer noch diese merkwürdige Personalpolitik von ihm erklären, aber ehrlich gesagt, wenn er diese Geschichte erfunden hätte, irgendein Schwuler hätte doch sicher mal was erzählt, wenn er mit dem Polizeipräsidenten gevögelt hätte. Das wäre doch wie eine Trophäe. Und sollte er die Frau Morell irgendwo vor Gericht als Zeugin anschleppen müssen – denkbar wäre das doch – dann könnte sein Kartenhaus schnell zusammenfallen.» «Ich stimme Tom da zu», meinte Thomas, «auch beim Klaiener Boten war das Privatleben vom Koller schonmal Thema. Irgendwer hatte seinerzeit behauptet, er hätte die beiden bei einem Badeurlaub in der südlichen Hemisphäre gesichtet. Wir haben das nie überprüft, aber es wäre ein Mosaikstein, dass er da die Wahrheit gesagt hat.» «Ist denn sein Privatleben wirklich wichtig in diesem Kuddelmuddel?» fragte ich. «Nun Ritchie», Tom schlug mal wieder den Lehrerton an, «vermutlich ja. Es kommt auf die Ereignisse der nächsten Tage an. Wenn sich Koller aus der Affäre halbwegs unbeschadet retten kann, dann nicht. Sollten die Faschos ihn aber auf Biegen und Brechen aus dem Amt haben wollen, dann wird das sicher ein Thema, dass die Medien begierig aufgreifen werden, oder Thomas?» Dieser nickte zustimmend und stand auf, um sich neben Tom zu stellen, der auch schon eine Weile nicht mehr am Tisch sass. Ich betrachtete die beiden, da mein heisser Thomas, da mein Ex. Er war noch immer ein grossartiger Mann, jetzt mit diesem Rauschebart, der hohen Stirn und den niedlichen Segelohren, die es mir als junger Mann so angetan hatten. Seine Figur zwar etwas fülliger, aber immer noch in Form, der niedliche flache Hintern und im Gesicht die ersten Falten, die es sanfter und milder wirken liess.

Lou nahm gerade den ersten Schwung ihrer Bällchen aus der Pfanne und legte sie in eine Schüssel und während sie die nächsten anbriet, fragte sie in die entstandene Stille: «Wissen wir eigentlich, wer Kollers Amt bekommen könnte? Mir drängt sich da gerade keine Person auf und Gerüchte kenne ich dazu auch keine.» Verwundert schauten wir auf Stefan, der als erster antwortete: «Unsörön Leutön ist das fast ögal. Klar gäbö ös bössörö als Kollör, abör wir löhnön ja das Systöm Polizei grundsätzlich ab und wördön gögön jödön kämpfön, dör in das Amt kommt.» Er schnaubte verächtlich nach seinen Worten. Thomas schob dann seinen Wissensstand nach: «Die Haltung der Antifa ist klar. Die Rechten möchten sicherlich auch jemand anderes, jemanden, der sie nicht stört oder besser noch, der sie unterstützt. So Modell Nieder-Bergen.» Stefan schnaubte noch lauter bei der Nennung seines Geburtsortes. «Wenn die Prognosen zur kommenden Wahl eintreten, dann könnten die Linken zusammen mit den Ökologen natürlich auch dieses Amt neu besetzen wollen. Aber auch dort hat es einige polizeikritische Geister, und denen ist Koller ein nützlicher Blitzableiter. Nicht ganz rechts – aber eben auch nicht links, das passt für sie ganz gut. Ich gehe eher davon aus, dass sie das Polizeidepartement von der Mitte wollen, dort wird wesentlich mehr entschieden als im Polizeipräsidium. Und so würden sie sich auch die Mitte gewogen machen oder besser gewogen halten. Die sind sich ja auch nicht immer grün die beiden Parteien. Aber Namen kursieren derzeit noch nicht, soweit ich weiss.»

Ich machte mich als Kaffeenachfüller nützlich und die anderen sahen Lou zu, wie sie mit grossem Geschick nun die dritte Ladung Bällchen formte und sie in die Pfanne legte. «Kommen wir doch nun zum inhaltlichen, was Koller da erzählt hat», leitete Tom unsere weitere Auswertung ein. «Offensichtlich war und ist er an Gaffer gebunden, das hat er ja zumindest gestisch bestätigt. Thomas, das solltest Du wissen. Bei den Unterlagen, die wir ihm ausgehändigt haben, sind auch Zahlungsbestätigungen zwischen Gaffer und der `Nationalen Aktion` dabei, wenn Koller so handelt, wie er es angedeutet hat, sollte er diesen Aspekt nicht vernachlässigen.» «Wie meinst Du das denn jetzt?» fragte ich irritiert und merkte, dass Lou Toms Gedankengang auch nicht recht folgen konnte. Thomas übernahm die Aufklärung für uns: «Es ist doch klar, dass Gaffer jederzeit Koller hochgehen lassen kann. Zumindest wegen irgendeiner Form der Bestechlichkeit oder der Verletzung von Amtspflichten. Will Koller das vermeiden, muss er diesen Aspekt der Finanzierung extremer Gruppen öffentlich machen. Ob Gaffer in seinem Alter dann noch zurückschlägt, das bleibt die spannende Frage. Vielleicht ist er allmählich zu müde, und lässt Koller quasi als Dankbarkeit für die jahrelange Hilfe unbehelligt.» «Autsch», rief Lou und wir dachten zuerst, sie hätte sich an der Pfanne verbrannt, aber es galt Thomas Worten, denn sie sprach gleich darauf weiter: «Das heisst, was immer jetzt Koller macht, er bleibt in der Geiselhaft des Alten?» «So sieht ös aus!» rief Stefan wütend und Tom ergänzte: «Tja, schon Scheisse, wenn Du sowas anfängst, da kommst Du nicht mehr raus. Aber ich habe auch kein Mitleid mit dem alten Gaffer und vor allem seiner Brut.» «Ah, das», rief nun ich, «diesem Herwig möchte ich am liebsten in die Eier treten und ihm eins in die polierte Fresse geben!» «Ruhig, Ritchie, ganz ruhig, denk daran, Du bist staatlich anerkannter Pazifist.» Tom brachte uns damit dann doch zum Lachen in der sonst so ernsten Debatte. «Aber ist doch wahr», empörte ich mich weiter: «Dass dem noch keiner das Handwerk gelegt hat?» «Wer sollte denn? Wirtschaftlich unabhängig und ein Felsenrain-Gaffer, da hast Du doch in Klaie ausgesorgt», brummte Tom mehr als dass er sprach.

«Männer», das war heute Lous Lieblingswort für uns, «ich habe das Gefühl, wir drehen uns im Kreis. Was fangen wir denn nun an? Müssen wir eigentlich was anfangen?» Ihre Stimme verriet grosse Ratlosigkeit. Tom antwortete als Erster: «Nun ich denke, wir sollten heute und morgen noch abwarten, bevor wir irgendetwas tun. Stefan und ich haben heute Morgen bereits mit unseren Leuten telefoniert. Auch sie halten Ruhe bewahren im Moment für das Beste. Vorsorglich haben wir aber eine Telefonkette gestartet, alle, denen das im Moment nicht geheuer ist, werden so rasch wie möglich die Stadt verlassen. Falls Koller uns total angelogen hat und einen Schlag gegen die Antifa unternimmt, steht er rasch mit leeren Händen da.» «Hältst Du das für wahrscheinlich, dass Koller so eine linke Bazille ist?» fragte ich nach. «Zuzutrauön wärö ös ihm», meinte Stefan lapidar und erntete zustimmendes Nicken von Tom und Thomas.

«Also nichts tun, versteh ich das richtig, Jungs?» «Sind wir nicht mehr Deine Männer, Lou, sondern wieder Deine Jungs?» «Ach leg doch nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage, sondern mach Dich nützlich und hol endlich das Geschirr raus und stell es parat. Und Ihr anderen, helft ihm!» Wir trauten uns nicht, sich ihr zu widersetzen und machten uns ans Werk. Tom fragte uns aber alle nochmal zur Bekräftigung: «Ist das allgemeiner Konsens, dass wir jetzt die Füsse stillhalten und schauen, was heute und morgen passiert?» Wir nickten ihm zu, und richteten weiter für die Party her. Kurz bevor wir fertig waren, zog mich Thomas zu sich und sprach leise zu mir: «Lieber Ritchie, egal wie lange die Party geht, ich muss um vier los und meine Erkenntnisse auf Papier bringen. Und auch die Artikel vorbereiten, die ich dem Boten angekündigt habe. Es wird wohl bis spät in die Nacht gehen. Das heisst, wir müssen heute Nacht getrennt schlafen.» «Oh wie Schade.» «Ja tut mir auch leid. Erst recht, weil ich zwar schon gern mit Dir kuschle, aber ich bräuchte alsbald wieder langen, schweisstreibenden, intensiven Sex mit Dir.» Er setzte wieder sein charmantes Lächeln auf, mit etwas schelmischem darin und ich konnte nicht anders als ihn fest zu küssen.

Lou hatte mittlerweile den Braten aus dem Ofen geholt und schnitt ihn in feine Scheiben, bevor sie ihn wieder zum Warmhalten in den Ofen legte: «Ich glaub, es reicht, wenn ich die Pizza in unserem Zweitofen backen lasse und so auf die Zwölf offeriere?» fragte sie mehr rhetorisch und wir nickten nur achselzuckend. Sie war schliesslich hier die Herrin. Stefan köpfte derweil ein paar Flaschen Rotwein und versicherte sich danach, dass der Weisswein bereits lange genug in der Kühlung war. «Ich hab noch drei Karaffen Tee mit verschiedenen Säften gemixt und im Kühlschrank gestellt, wenn Ihr die rausholt, denkt bitte daran, ein paar Eiswürfel hinein zu geben.» Wieder stummes Nicken von uns. Jetzt ging es allmählich ins Finale, es sah aber auch sehr einladend aus. Die Uhr zeigte kurz vor halb elf. «Ich springe noch schnell unter die Dusche, Jungs, bin gleich wieder da, stellt keinen Unsinn an, ja?» Sie entschwand, ohne unser erneutes Nicken auch nur ernsthaft zu registrieren. «Was für ein Wirbelwind», kommentierte Thomas. «Ja das ist sie unserö Lou», Stefan grinste und wir mit. «Mal sehen, wann die ersten kommen», meinte Tom noch und danach gossen wir uns erstmal ein Glas Sprudelwasser ein und setzten uns still an den Tisch, bis auch Lou wiedererschien. Ganz ungewohnt und eigentlich war das sonst nur ihre Urlaubsbekleidung, kam sie in einem Kleid daher. Ein sehr sommerliches, das ihre hübsche dralle Figur gut betonte, auch die Oberweite gut ausstellte und mit grossen Blumen verziert war. «Kann ich so unter die Leute», fragte sie ohne wirklich ein `Nein` zu erwarten. Brav machten wir ihr natürlich unsere Komplimente, sie sah aber wahrlich grossartig darin aus. Dass sie nun auch die ersten grauen Haare hatte, machte ihren Charakterkopf nur noch attraktiver und gereifter. «Machst Du mir bitte ein Glas Weisswein, Stefan?» fragte sie noch und liess sich dann erschöpft, aber über alle Backen strahlend im Sessel nieder und genoss sichtlich zufrieden kurz darauf ihren Wein.

 

 

 

15 Party

 

Kurz nach elf klingelten die ersten Gäste an der Haustür. «Ich mach auf», rief Lou und eilte zur Tür. Mohrle direkt ihr nach. Lou machte die Tür auf, offenbar waren einige mit der gleichen Strassenbahn angekommen, denn das Stimmengewirr aus dem Treppenhaus klang nach mehreren Menschen. «Guten Tag Frau Wagner, Herr Wagner, schön, dass Sie kommen konnten, hereinspaziert», hörten wir Lou und das ging dann ähnlich bei Ndbele, Mia, Natascha, sowie Ilse, Julia und Laura aus ihrem Harem. Wir Männer standen gut verteilt im Raum und kamen auf die Gäste zu und begrüssten sie auch. Stefan und Tom spielten die Mundschenke, während Thomas und ich das Buffet präsentierten. Lou war bereits im Gespräch mit ihren Haremsdamen vertieft. Ich schnappte mir das Wagner-Ehepaar und Tom ging auf Natascha zu. «Schön Sie zu sehen», sagte ich zu den Beiden und sie strahlten mich an und Frau Wagner meinte freudig: «Ah Herr Gaffer, wie sollen wir Ihnen nur danken? Das war gestern so ein schöner Tag mit Mischa. Das ist ja ein wunderbarer Mann geworden.» «Ach, da gibt es nicht viel zu danken. Es war eher ein Zufall, wie das Leben eben so spielt.» «Ich hatte ehrlich gesagt, die Hoffnung bereits aufgegeben, ihn je wieder zu sehen», sagte dann Herr Wagner, «Umso grösser dann die Freude.» «Ihr Sohn hat mir erzählt, sie leben im Haus seiner Tante, von welcher Seite ist das denn die Schwester?» «Von meiner», antwortete mir Frau Wagner, «sie lebt noch immer mit uns, aber wir sehen sie nicht viel. Sie reist gerne und ist ständig unterwegs. Aber dafür bringt sie immer viele Geschichten von ihren Reisen mit und auch sonst ist sie eine patente Frau und sie hat sich immer so gut um Stefan gekümmert. Wir haben ihr ja so viel zu verdanken.» «Ja sie uns aber auch», meinte Herr Wagner, «so ein turbulentes Familienleben hätte sie ohne uns nie gehabt, das hat sie sicher auch so jung gehalten.» Wagners mussten lachen und ich stimmte gerne mit ein. Da ging erneut die Klingel und weil Lou ganz vertieft war, entschuldigte ich mich bei den Wagners und öffnete, von Mohrle keine Spur, sie war wohl wieder in mein Zimmer geflüchtet. Das tat sie regelmässig, wenn es ihr zu viele Menschen hat und bevorzugt legt sie sich dann unter meine Decke. Es war wohl mittlerweile wieder eine Strassenbahnladung angekommen, ich konnte dann Mischa und Sarah begrüssen und ich sagte ihr noch ganz speziell, wie sehr es mich freue, dass sie Zeit und Lust zu kommen hätte, dann folgten noch Heinar von der Antifa samt Freundin, die mir als Angelika vorgestellt wurde, dann noch Mike Bartels, der schwule Schwimmstar, mit dessen Vater ich gerade erst telefoniert hatte und Tamara von den Draggies, Natascha hat mein Angebot offenbar realisiert, dass sie noch zwei, drei Aktive aus der Queer-Community einladen sollte und dass es gerade zwei vom Gewalttelefon waren, freute mich besonders. Und mit einer Drag-Queen in der Gesellschaft, sollte es sicher auch extra was zu lachen geben. Tamara hatte sich auch gut aufgedonnert und sah hinreissend aus. Ich führte die neuen in unsere Wohnküche und zeigte ihnen die bisherigen Gäste, damit sie diese zuordnen konnten. Doch zuerst steuerten alle bis auf Mischa dem Buffet und den Getränken zu, er selbst nahm sofort die Wagners in Beschlag, was diese sichtlich erfreute. Ich hingegen nahm den Weg zu Thomas, der noch immer mit Natascha am Unterhalten war. Beide hatten sich aber mittlerweile auch schon mit Essen versorgt und schmatzten und schwatzten abwechselnd recht fröhlich. «Das ist aber ein schickes Teil», sagte sie zu mir und zeigte mit der Gabel auf Thomas, der schmunzelte. «Ich weiss, und was es sonst noch so über ihn zu erzählen gibt, verrat ich Dir mal unter uns.» Thomas warf mir einen freundlich-bösen Blick zu. «Wo ist denn Deine Erika?» fragte ich Natascha. «Die kommt etwas später, sie hatte Nachtschicht im Krankenhaus und wird wohl erstmal bis zwölf schlafen und dann nachkommen.» «Pflegerin?» fragte Thomas. «Nein, angehende Ärztin, erstes Praxisjahr», antwortete Natascha, dann setzte sie ihr besonders grosses Grinsen auf: «In allem andere ist sie aber schon sehr gut ausgebildet.» Thomas und ich mussten lachen, mir gefiel, dass er Natascha und ihr freches Mundwerk offenbar auch auf den Schlag weg mochte. Ich holte Nachschub und gesellte mich wieder zu den Zweien, gemeinsam blickten wir in die Runde und beobachten genau, wer sich gerade mit wem unterhielt. «Wer ist das denn, mit dem Lou da steht?» fragte mich Thomas. Ich grinste ihn frech an und sagte: «Das ist Sarah. Ich hab sie am Donnerstag bei den Queeren Jüdinnen und Juden kennen gelernt und dachte, sie passt gut zu Lous Harem.» «Du Kuppelmutter», entgegnete Natascha. «Ja, das wäre doch noch ein Nebenberuf für mich», nahm ich ihren Faden auf. Mischa stand wie zu erwarten immer noch bei den Wagners, Stefan hatte sich mittlerweile auch dazu gesellt. Mia und Ndbele waren eifrigst mit Tamara im Gespräch. Ich blickte zufrieden über die Gesellschaft und dann intensiv zu Thomas der mir einen Kuss zuhauchte. Tom hatte offenbar die Pförtnerrolle eingenommen, jedenfalls war er immer wieder am Pendeln zwischen seinem Stefan, den Wagners, Mischa und der Tür. Der Raum füllte sich zunehmends und die zwölf Uhr war bereits überschritten. Dann kam auch Erika, und Natascha rief ihr zu: «Eeeeeriiiikaaaaaa! Hier bin ich!» Dabei winkte sie mit ihren Armen in der Luft und als Erika sie ausgemacht hatte, kam sie so schnell es in der Masse ging zu uns. Ich flüsterte ihr zu. «Klappt wohl auch ausserhalb des Bettes mit diesen Vokalen.» Natascha warf mir einen amüsierten Blick samt Nicken zu und stellte uns dann vor und ich sah sofort, dass es da zwischen den beiden gefunkt hatte, da hätte es die stürmische Begrüssung, die sie hinlegten, nicht einmal gebraucht. Erika war etwa 25, 26, so meine Grösse, lockige braune Haare und ebensolche Augen und eher drall, so Format Lou, absolut ein Hit. Ich überliess die Zwei ihrem Geturtel und setzte mich aufs Sofa, das sonst unbenutzt war. Da die Sonne mittlerweile schien, hatte sich ein Teil der Partygesellschaft auf die Terrasse begeben. Lou sass auch dort, umgeben von ihren Haremsdamen inklusive Sarah und ihr munteres Gelächter drang periodisch bis zu mir.

Thomas hatte sich ins Gespräch mit Heinar, Angelika und einer mir unbekannten Frau vertieft. Und jetzt fiel es mir wieder ein, das musste Roberta sein, von der Thomas sprach. Ich nahm mir vor, nachher auch noch das Gespräch mit ihr zu suchen. Stefan und Tom hatten Ndbele in Beschlag und so wie es aussah, gab Stefan ihr ein paar Trainingstipps, denn er machte immer wieder Bewegungsübungen, die sie nachahmte.

«Hallo Ritchie, lange nicht gesehen», Mia hatte neben mir Platz genommen. «Ja hallo Mia, in der Tat, das ist lange her. Ich hab mich ein wenig auf Deiner Homepage getummelt, alle Achtung, Du bist ja ein echter Star.» «Sie lachte auf und sagte: «Ritchie, im Vertrauen, das ist so ein geiles Leben. Ich mach, wenns hochkommt, drei Monate im Jahr meine Kunst, den Rest verbring ich mit Wichtigtun, schlauen Reden halten und köstlichen Apéros irgendwo auf dieser weiten Welt. Und immer, wenn ich heimkomme, habe ich diese geile Megafrau», sie zeigte auf Ndbele, die immer noch Bewegungsübungen lernte. «Ndbele war vor ein paar Tagen hier, ich glaube, ihre Worte über Dich waren ähnlich freundlich.» Ich schmunzelte sie an und sie zurück. «Lottogewinn!» «Was macht eigentlich Euer Garten?» «Dem geht es prima, Ndbele und ich haben einen Teil für Gemüse umgestaltet und ernten jetzt unsere eigenen Tomaten, Gurken, Salate und das Zeugs. Nun, da ich viel unterwegs bin, ist das schon hauptsächlich ihre Aufgabe geworden, aber für sie ist das der ideale Ausgleich zur Arbeit und ich komme dann und wann vorbei und dirigier.» Wir mussten weiter lachen. «Gibt es denn diesen heissen Gärtner noch?» «Du meinst Giuseppe?» «Ja Giuseppe heisst er, ich musste vor ein paar Tagen an ihn denken und mir ist der Name nicht mehr eingefallen.» «Ja den gibt es noch, der kommt im Frühjahr und im Herbst bei den groben Arbeiten zum Helfen. Und er hat immer noch das gleiche Schema, jedesmal, wenn wir ihn sehen, erzählt er von der grossen Liebe seines Lebens. Ist aber jedesmal ein anderer Kerl, aber immer die grosse Liebe.» Mir kamen nun schon Tränen vor Lachen. In dem Moment schoss Lou in die Wohnküche: «Meine Pizza, ich hab ja völlig die Pizza vergessen. Behaltet Hunger Leute, in einer halben Stunde gibt’s Pizza!» rief sie und ich merkte, dass manche wohl schon jetzt kaum mehr Platz im Magen hatten. Das Essen war aber auch zu köstlich.

Da Lou schonmal wieder in der Wohnung war, schnappte sie sich Mia und entführte sie zu den anderen Frauen auf die Terrasse. Ich machte dann eine Runde und versuchte, mit allen Gästen wenigstens ein paar Worte zu wechseln, es wurden aber meist einige, und mit Roberta besonders viele. Ich beschrieb ihr unsere Angebote in der queeren Community und lud sie ein, jederzeit auf mich zuzukommen, wenn sie etwas bräuchte oder einfach mal ein offenes Ohr bräuchte. Und natürlich gab ich ihr die Kontaktdaten zu unserer Transgruppe. Dann winkte ich noch Natascha zu uns und nachdem das Gespräch bislang eher steif war, wurde es mit ihr richtig amüsant. So verging die Zeit ziemlich schnell. Dann wurde es auch schon fast vier und Thomas kam wieder zu mir: «Mein Lieber, ich muss jetzt. Ach, Du fehlst mir jetzt schon und noch stehst Du ja vor mir.» «Du mir auch Thomas. Welch ein Glück, Dich getroffen zu haben. Wir sollten den Eierwerfern eine Dankeskarte schicken.» Er schmunzelte, nahm mich fest in die Arme und liess lange nicht los und ich genoss seine Wärme und Nähe. Er verabschiedete sich von den Anderen, wo möglich, noch kurz und war weg. Tamara sah, dass es mir nun nicht so gut ging und kam zu mir. Sie schaffte es rasch, mich durch ihre Showgeschichten und Auftrittserlebnisse abzulenken und wieder in eine gute Stimmung zu bringen. Mike fand offenbar unsere Unterhaltung auch spannend und kam zu uns. Seine Schwimmerfigur war wie gewohnt atemberaubend. Auch Tamara kommentierte sein Aussehen ausgiebig, nicht ohne sich auch von der Festigkeit seiner Muskeln zu überzeugen. Nachdem das erledigt war, ergriff er auch ernsthaft das Wort und fragte: «Du hast mit meinem Vater telefoniert?» «Wenn Du das so fragst, weisst Du das ja schon.» «Sorry, ich suchte nach einem passenden Gesprächseinstieg. Er hat mir natürlich brühwarm von Eurem Telefonat erzählt und mir die Hölle heiss gemacht, dass unsere Schwimmgruppe nicht zu ihm an den Rain kommen mag. Darf ich Dich bitten, mal ganz offiziell meinen Männern ins Gewissen zu reden? Ich rede mir da echt den Mund fusselig, aber die sind stur wie noch was und Du als Präsi? Hab ich so gedacht…» «Na sicher Mike, mach ich gern, und ehrlich, es gibt für mich unangenehmeres, als vor so ner Truppe Schwimmer zu reden, mmmhh, ich hab ja ein Faible für Schwimmerfiguren.» Er lächelte etwas schief. «War das eine plumpe Anmache?» Ich lachte laut. «Nein Mike, nur eine Feststellung. Wenn ich Dich anmachen wollte, würdest Du nicht mehr fragen.» Tamara lachte schrill und fragte sofort: «Darf ich mir den merken und in mein Programm einbauen?» «Es wäre mir eine Ehre.» Ich wollte gerade noch was zu Mike sagen, aber den hatten wir wohl verschreckt.

Gegen Fünf begann sich die Gesellschaft langsam aufzulösen. Ich stand mittlerweile als einziger Mann unter Frauen auf der Terrasse und hörte mir den Klatsch aus der Lesbenszene mit grosser Freude an. In einer grossen Gelächtersalve stubste mich Lou an und sagte flüsternd: «Danke, dass Du Sarah eingeladen hast. Die ist ja eine Wucht. Da hast Du aber mal etwas Besonderes gut.» Ihre Augen funkelten und ich war sehr zufrieden mit mir.

Um halb sieben gingen dann auch die Letzten, es waren die Wagners, Mischa und Sarah. Als sie weg waren, fragte ich Tom und Stefan: «Hab ich das richtig gesehen, Mischa war fast den ganzen Nachmittag nur bei Stefans Eltern?» «Ja hab ich auch so gösöhön, Ritchie. Ich glaub, ich hab einön neuön Brudör», witzelte er. «Und wäre Dir das recht?» fragte ich nach. «Ei sichör, ist doch ein gutör Typ. Abör ich örzählö meinön Öltörn dann bössör nicht, dass ich ihn schon durchgövögölt habö. Möhrmals. Immör wiedör.» Tom gab seinem Mann einen sanften Hieb auf die Schulter und meinte: «Besser ist das, wenn Du das lässt. Sie sind ja schon tolerant, aber Du solltest es nicht überstrapazieren.» «Mooooment!» rief ich: «Du Stefan und Mischa? Ihr habt schon miteinander und wusstet die andere Geschichte nicht?» «Ich weiss nicht worübör Du beim Söx so sprichst, Ritchie, abör Nein, das war nie ein Thöma. Ist abör auch schon langö hör. Ich ging auf die dreissig zu, sah noch ganz andörs aus und hattö so einö Bubi-Phasö. Und Mischa damals so Anfang zwanzig, war abör immör voll bössofön. Ich glaub, dör örinnört sich öh nicht möhr an mich und unsörön Söx.»

Nun schaltete Lou sich ein: «Sagt mal Jungs, gibt es in Klaie noch Männer, mit denen Ihr nicht habt?» «Sagt die Frau mit dem grössten Harem in der ganzen Grafschaft Klaie. Du bekommst doch mittlerweile in jedem Geschäft Rabatt», frotzelte Tom. Sie zuckte die Achseln und musste dann doch noch was loswerden. Ihr brannte offenbar das Gleiche auf der Seele, wie mir noch gestern: «Aber nach diesen Ereignissen, sehe ich das richtig? Die Zeit der Monogamie im Hause Hebmann-Wagner ist ab sofort offiziell vorbei?» Tom und Stefan jaulten: «So eine Zeit gab es offiziell nie. Ihr habt uns das nur immer angedichtet.» «Und wir habön Euch lassön und andörö auch, so als Abwöhr.» Stefan grinste und Tom ergänzte: «Schaut Euch doch meinen Mann an. Meint Ihr, sowas sollte in den Kerker der Monogamie? Solange er gerne zu mir zurückkommt, ist doch alles im Lot.» «Und dör Söx mit Tom bleibt einfach dör Böstö», warf Stefan noch ein. «Das sind ja ganz neue Töne, mein lieber Tom», musste ich das eben Gehörte doch noch kommentieren. «Ritchie, das sind jetzt bald 20 Jahre her, gönn mir doch auch meine Persönlischkrrr - au der Wein. Isch, isch … - IIIIch wollte sagen, lass mich doch auch entwickeln, so als Perschon.» Wir amüsierten uns köstlich über Tom, das gabs nun wirklich selten, dass er einen über den Durst hatte und dass davon sein Sprachzentrum betroffen war. «Das Essen war einfach schu köschtlich, Lou», versuchte er abzulenken, «Aber esch macht durschtig.» Wir grinsten uns alle an und packten dann gemeinsam an, um die Wohnung wieder aufzuräumen.

«Männer, ich danke Euch für Eure Hilfe», verkündete Lou, als es in der Tat wieder blitzblank war, «wollen wir zusammen noch ein Glas Wein trinken und uns auf dem Nationalen Kanal die Abendnachrichten anschauen, dann sind wir für die Woche wieder themenfest?» «Gute Idee, Lou», antwortete Tom als Erster und schaltete den Fernseher an, es war gleich halb acht und Zeit für die Hauptsendung, Stefan füllte unsere Gläser und wir fanden uns alle auf dem Sofa ein. Selbst Mohrle kam daher und maunzte. «Ich fütter das arme Tier gerade noch, war sie heute mal hier?» fragte ich. Alle schüttelten den Kopf und ich streichelte unser Haustier erstmal kräftig und füllte dann ihre Schüsseln, die sie in aller Ruhe leerte.

Das Startsignet lief bereits, als ich auch wieder auf dem Sofa landete. Und die Hauptnachricht hatte es in sich.

«Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserer Nachrichtensendung um halb acht. Klaie: Seit den frühen Morgenstunden hat die Polizei bei mehreren Razzien in der Stadt Klaie und dem Bezirk Klaie Wohnungen und Verstecke der `Nationalen Aktion` und der `Bewegung für ein freies Klaie` durchsucht.» Synchron nahmen wir einen Schluck Wein und starrten gebannt auf den Fernseher, der Bilder vor allem aus der Kurzstrasse zeigte. «Die Razzien standen im Zusammenhang mit Überfällen in Klaie, die gegen queere Menschen gerichtet waren und einem Angriff auf einen jüdischen Versammlungsraum am Donnerstag dieser Woche. In diesem Zusammenhang hat die Nationale Polizei auch Hausdurchsuchungen im Bezirk Nieder-Bergen durchgeführt. Dort wurde auch der amtierende Staatsanwalt Andreas Hirtner durch eine Sondereinheit des Staatsschutzes festgenommen. Ersten inoffiziellen Mitteilungen zu Folge, war er massgeblich an einem Sprengstoffanschlag auf einen jüdischen Kindergarten im Jahr 1982 beteiligt. Aufgrund einer Gesetzesänderung aus dem Jahre 1979 ist diese Tat nicht verjährt und wird von den entsprechenden Organen nun untersucht. Nähere Informationen zu den Durchsuchungen und dem Zweck der Ermittlungen hat der Polizeipräsident von Klaie, Koller, für morgen im Rahmen einer Pressekonferenz angekündigt. Der nationale Innenminister sprach in einem Interview mit dem Klaiener Boten von `ungeheuerlichen Vorgängen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratische Grundordnung erschüttern könnten`. Speziell erwähnte er das politische Klima in Nieder-Bergen, das als Sammelbecken rechtsextremer Gruppen gilt und für das den Worten des Innenministers nach es wörtlich `endlich einer umfassenden Aufklärung mit daraus folgenden entschlossenen Handlungen` bedürfe. Wie unser Sender aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr …». «Thomas!» riefen wir gleichzeitig der Nachrichtensprecherin entgegen, als könnte sie uns hören. «… ist der Tod des Attentäters des Sprengstoffanschlages in der Untersuchungshaft in Nieder-Bergen kein Suizid gewesen, sondern durch Staatsanwalt Hirtner angeordnet, zumindest aber gedeckt worden. Wir bemühen uns um zusätzliche Informationen bis zu unserer Spätausgabe, heute um 23 Uhr 15.»

Tom schaltete auf stumm, denn als nächstes gab es einen Bericht über einen irrlichternden Präsidenten, der irgendwo auf dieser Welt sein Unwesen trieb, uns aber setzte die Meldung aus Klaie bereits in Aufruhr und der Rest der Welt konnte uns gerade mal.

«Schau an, schau an, der Koller. Scheint Wort gehalten zu haben», Tom war wieder Herr über sein Sprachzentrum. «Ja kommt mir auch so vor, aber das gründlich. Wenn die Nationale Polizei einen Staatsanwalt festnimmt, wow, das passiert nun auch nicht alle Tage», kommentierte ich. «Und unsörö Nationalrögierung ist nun auch nicht göradö links». Ich staunte mal wieder über Stefan, war mir seine Geistesgegenwart bisher entgangen oder lief er derzeit zu Hochform auf? «Ich bin gespannt, was Koller morgen auf der Pressekonferenz mitzuteilen hat», sagte noch Lou, doch wir Männer waren bereits an unseren Telefonen und durchsuchten das Netz nach zusätzlichen Informationen. Nach einer Weile fragte Tom: «Habt Ihr was? Ich finde nichts, was über diesen Bericht hinausgeht. Selbst unsere Depeschenagentur teilt nur das mit, was wir gerade gehört haben.» Wir reagierten nicht sofort, aber dann auch nur mit «Nein, nichts weiteres.» «Jetzt noch ein Glas Wein, Männer und dann irgendetwas Seichtes im Fernsehen?» fragte Lou und wir stimmten alle zu. Jetzt bloss kein weiteres Gerede mehr.

Ein Sprung von Mohrle auf meinen Schoss riss mich aus dem Schlaf. Ich blickte um mich und war ausser der Katze der einzig andere Wache im Raum. Lou, Stefan und Tom schliefen mehr oder weniger hörbar auf dem Sofa, während der Fernseher gerade einen Werbeblock versendete. Ich liess Mohrle auf meinen Schoss und kraulte sie mit der rechten Hand und mit der linken nahm ich mein Telefon und suchte nach Aktualitäten zu den heutigen Ereignissen, aber ergebnislos. Da die Fernbedienung zu weit weg lag, blieb ich beim Surfen und Kraulen. Die Uhr zeigte kurz vor zehn. Punkt zehn nahm ich das Tier runter von mir, die anderen lagen wie ungerührt weiter so da. Ich nahm mein Telefon und schlich so leise wie möglich in mein Zimmer und rief Thomas an.

«Hallo mein Ritchie, das ist eine willkommene Abwechslung.» «Hallo mein Thomas. Freut mich. Wir sind gerade alle vor dem Fernseher eingeschlafen und wäre Mohrle nicht auf mich gesprungen, läge ich auch noch dort.» «Na dann, sag der Katze Danke.» «Und wie gut kommst Du voran?» «Nicht schlecht. Das Nationale Fernsehen hat bereits Infos von mir verarbeitet und einige Recherchen bestellt. Und Kollers Aussagen habe ich mal zusammengestellt und prüfe die jeweiligen Unterlagen, die mir zur Verfügung stehen.» «Na das klingt nach viel Arbeit.» «Aber einer, die Spass macht. Wühlmaus. Ich mag das.» «Dein Glück, meins wäre es ja nicht. Ich ruf auch an, weil ich nun wohl bald ins Bett gehe und davor unbedingt noch Deine Stimme hören wollte und Dir eine gute Nacht wünschen.» «Das tut gut, auch wenn ich sicher noch bis zwei arbeiten werde. Aber ich werde an Dich denken und Dir gute Gedanken für schöne Träume schicken.» «Mann, bist Du ein Lieber. Ich bin sowas von verknallt in Dich und immer wieder topst Du das auch noch. Dir gute Energien fürs Arbeiten und dann erholsamen Schlaf.» «Danke Ritchie, mir geht’s auch saugut mit Dir, Du tust mir echt gut. Und dass ich heute so gute Energien beim Arbeiten hab, da bist schon Du auch schuld.» «Danke Thomas, gute Nacht und festen Kuss.» «Festen Kuss zurück, Ritchie.»

Meine Abendtoilette erledigte ich halb schwebend und war dann auch wohlig in mein Bett gekuschelt und schlief über angenehmen Gedanken über Thomas ein.

 

 

 

16 Pressekonferenz

 

Da ich ungewohnt früh ins Bett gegangen war, hatte ich mir meinen Wecker bereits auf halb sieben gestellt. So bestand auch die Chance, dass ich noch meine Mitbewohnerin und Mitbewohner treffe und vor Natascha im Büro sein konnte. Tatsächlich traf ich aber am Morgen nur Lou an, Tom war bereits aus dem Haus und Stefan hatte wohl einen Aussentermin, der erst später begann, zumindest hing ein Schild an der Tür: `Bitte Ausschlafen lassen`. Lou sass mit einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Käsebrot am Küchentisch und studierte ihr Telefon. «Guten Morgen Lou.» «Guten Morgen Ritchie, na fit für die neue Woche?» «Ja Danke, Du auch?» «Erstaunlicherweise ja. Das gestern war ein echter Aufsteller, hat mir viel Spass gemacht und neue Energien gebracht.» «Super. Dann hat sich ja der ganze Aufwand gelohnt. Aber mir geht’s auch prima und das Verliebtsein tut eh sein Übriges.» «Sehr gut. Wurde auch Zeit nach all Deinen Affairen und Affairchen, dass Du mal was Seriöses angehst. Und wieder einmal einen gestandenen Mann.» Sie grinste mich vielsagend an. «Ja, ja, Wink verstanden. Und ja, auch da alles superdupergut. Nur kommen wir im Moment nicht dazu. Aber die zweimal bisher waren sensationell.» «Danke, Neugier befriedigt.» Sie lachte mich an: «Kennst mich doch mittlerweile.» «Ich hab da auch kein Problem damit, vor allem nicht, wenn es kein Problem gibt.»

Ich trank noch meinen Morgenkaffee und schwang mich dann auf mein Fahrrad Richtung Büro. Nach dem Werbevideo über Klaie nahm ich mal einen grösseren Umweg und radelte bis zur Weesel und dann flussabwärts bis fast zum Büro. Ich stoppte extra die Zeit und es dauerte gerade mal vier Minuten länger, war aber deutlich entspannter, da ich hier meist auf eigenen Radwegen unterwegs sein konnte.

Wie geplant war Natascha noch nicht da und ich hatte das Büro für mich. Ich schaute zuerst mal meine Dienstmails an und stellte erleichtert fest, dass keine Notfälle gemeldet wurden. Dann rief ich den Chef der queeren Polizisten an, aber dort war nur sein Beantworter. Bei den queeren Polizistinnen auch. Offenbar war montags morgens die Polizei schon in Besprechungen.

Da sonst erstmal nichts Dringendes anlag, versuchte ich noch an Neuigkeiten zu den gestrigen Razzien zu kommen, auch da Fehlanzeige. Also schrieb ich Thomas eine Textnachricht, dass ich wach sei, erreichbar und ihn vermisse. Auch da – keine Antwort.

Als dann Natascha auftauchte, war ich um die Abwechslung sehr dankbar. Sie war auch wie gewohnt voller Energie und begrüsste mich stürmisch: «Ah und Eure Party gestern, das war echt Klasse. Ich soll auch lieb von Erika grüssen, die war ganz begeistert, von der Verpflegung bis zu den Gästen.» «Na das freut mich doch sehr. Hat mich auch sehr gefreut, dass Ihr gekommen seid.» «Was war das eigentlich zwischen Dir und Roberta?» «Gute Frage Natascha, ich kanns Dir auch nicht sagen. Irgendwie kam das Gespräch zwischen ihr und mir nicht in Fahrt. Ich habs zu retten versucht, in dem ich ihr unsere Angebote seitens Klaqueur näher gebracht habe, aber ich fürchte damit hab ich es noch schlimmer gemacht. Aber Du hast Dich doch gut mit ihr verstanden?» «Ja hab ich. Sie meinte eher, Du wärst befangen, weil sie doch eine Kollegin von Thomas sei und deswegen vorsichtig bei deiner Wortwahl.» «Das wäre aber neu für mich. Und an Thomas hab ich in dem Moment gar nicht gedacht. Eher, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, sie erst so spät begrüsst zu haben.» «Na aber so wie ich das sehe, hat es keinen grossen Schaden gegeben. Sie kommt auch zu unserer Lesbengruppe, jetzt als Frau, die wie vorher als Mann auf Frauen steht, muss sie halt jetzt woanders fischen gehen.» «Welch elegante Wortwahl, Frau Kaminskaja, wusste gar nicht, dass Ihr jetzt auch Teiche im Angebot habt.» Sie warf mir einen amüsiert-frechen Blick zu und begab sich dann auch erstmal an ihr Arbeitsgerät. Während des Hochfahrens fragte sie noch: «Weisst Du, wann die Pressekonferenz vom Koller ist?» «Die Stadt meldet voraussichtlich ab zehn, aber was das voraussichtlich soll, keine Ahnung.» «Na ich hab alle Nachrichtenkanäle auf Push eingestellt, wir sollten nichts verpassen.» «Oh das ist super Natascha, wenn ich das bei mir mache, bekomm ich dieses lästige Gepiepe nicht abgestellt und ich mags nicht, wenn mein Telefon ständig was mitzuteilen hat.» «Wann feierst Du nochmal deinen Sechzigsten? Gestern?» gab Sie mir freundlich mit. Ich sagte dazu nichts und vertiefte mich in die ersten Antwortmails zu unserem Fundraisingbrief, dass überhaupt welche da waren – so übers Wochenende - wunderte mich, aber da es auch nur Absagen gab, war klar, dass sich nicht viel Mühe damit gegeben wurde.

Wenige Minuten später meldete sich Natascha wieder: «Du Ritchie, ich hab hier das Protokoll des Gewalttelefons, kein einziger Anruf an diesem Wochenende. Kannst Du Dir das erklären? Nicht, dass ich das nicht gut fände, aber das letzte ruhige Wochenende ist schon ein Weile her.» «Ah, das hab ich noch ganz vergessen.» Ich suchte ein wenig nach Worten, da ich Natascha nicht über Kollers Besuch einweihen wollte und mir fiel nichts besseres ein als: «Koller hat am Samstag noch angerufen, seit Freitag sind 18 seiner Leute unterwegs. Das ist wohl die Wochenendstärke, Freitag und am Samstag. Und in der restlichen Woche gehen noch zehn in zivil auf Streife. Das ist doch mal ein guter Erfolg und scheinbar wirkt es auch.» Ich war erleichtert, dass sie nicht weiter fragte und nur ihre Daumen in die Höhe reckte.

Dann kam der ersehnte Anruf von Thomas, er war deutlich ausser Atem: «Hallo mein Lieber. Sorry, ich bin kurz angebunden. Hab verpennt. Aber bis um vier gearbeitet. Und ich bin schon unterwegs zur Redaktion. Darf den Termin von Kollers PeKa nicht verpassen. Geht’s Dir gut, mein Schöner?» Ich lachte und sprach betont langsam: «Ja Danke Thomas, hab Deinen Anruf schon herbeigesehnt.» «Ah gut», schnaufte es am anderen Ende: «Du ich muss weiter, Entschuldigung, später mehr in Ruhe. Kuss.» Und weg war die Verbindung. Natascha sah meine Verdatterung und fragte: «Alles klar?» «Ja doch, der Ärmste hat verschlafen und keuchte nur ein paar Worte, aber auch ein paar liebe. Der ist noch auf dem Weg in die Redaktion und will wohl pünktlich zu Kollers Auftritt da sein.» «Na das Rathaus ist ja nicht weit weg von der Redaktion des Boten, das sollte er doch bis in einer Stunde schaffen.» «Ich wills hoffen, Natascha, ich wills hoffen.»

Wir waren beide ziemlich gespannt auf Kollers Aussagen und zu echter Arbeit nicht zu gebrauchen, so schlürften wir Kaffee und erzählten uns unsere Erlebnisse von der gestrigen Party. Dann endlich, die erhoffte Mitteilung auf Nataschas Telefon, die Pressekonferenz sollte jeden Augenblick beginnen: «Komm zu mir Ritchie, mein Bildschirm ist grösser, das gucken wir im Livestream.» «Ah so, Internet-TV», übersetzte ich für mich laut und erntete wieder so einen mitleidigen Blick, inzwischen durfte ich ihrer Meinung nach wohl bereits meinen Siebzigsten feiern.

Wir sahen die Pressesprecherin der Stadt Klaie hereinkommen und sich setzen. Sie begrüsste die Anwesenden und erklärte, dass Herr Koller lediglich ein Statement zur aktuellen Lage abgeben werden, aber sowohl der Herr Oberbürgermeister als auch der Departementsvorsteher für `Sicherheit und die lokale Polizei` danach zu Fragen Stellung nehmen werden. Dann machte sie noch einige Bemerkungen zum Umgangston und den Verhaltensregeln. In dieser Zeit schwenkte die Kamera über das Publikum. Wo sich sonst im grossen Tagungsraumes des Historischen Rathauses nur einzelne Lokalreporterinnen gelangweilt auf den Stühlen rekelten, war es heute brechend voll, so dass einige sogar stehen mussten. Das nationale Fernsehen war da und wie es aussah, auch einige ausländische Stationen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Dann kam auch Thomas ins Bild, er hatte sich zu diesem Anlass extra in einen Anzug begeben und eine Krawatte umgebunden und sah nur scharf darin aus. «Vorsicht Ritchie, Dir läuft das Wasser literweise im Mund zusammen, schluck mal», zog mich Natascha auf, meine Blicke waren wohl sehr eindeutig. Ich reagierte nicht, denn nun kamen die Herren in den Saal, vorne der OB, dann der Herr Departementsvorsteher, dann Koller. Er sah unerwartet frisch und munter aus und hatte sich heute für Uniform entschieden. So sah ihn die Öffentlichkeit eher selten.

Sie nahmen Platz, Koller umrahmt von den beiden anderen. Und dann fing er an:

«Sehr geehrte Damen und Herren, das grosse Interesse, dass Sie heute mit Ihrer Anwesenheit beweisen, zeigt mir, dass wir eine ernste Situation in Klaie, im Bezirk Klaie, im Bezirk Nieder-Bergen und damit auch im ganzen Land haben. Ich möchte Sie im Folgenden über den Sachstand der Klaiener Polizei informieren und über die Massnahmen, die wir mit anderen Sicherheitsbehörden bereits durchgeführt beziehungsweise in die Wege geleitet haben.» «Oh diese Amtssprache, komm auf den Punkt, Bulle», schimpfte Natascha dazwischen, ich konnte derzeit meine Aufmerksamkeit aber nicht von der Übertragung lassen.

«Wie Sie mitbekommen haben, haben sich in den letzten Wochen verschiedene besorgniserregende Vorfälle in Klaie ereignet. Beginnend mit der Störung einer Demonstration gegen die Bürgerversammlung zum Projekt Südstadt, bei der es Körperverletzungen durch maskierte Täter und Eierwürfen gekommen ist und die mittlerweile aufgeklärt und dem rechtsextremen Spektrum in Klaie zugeordnet werden konnten. Dies wurde möglich vor allem durch die tatkräftige Unterstützung aus der Bevölkerung.» Beim Wort `tatkräftig` musste ich sofort an Stefan denken und schmunzeln. «Ich möchte hier aber besonders die massiven Attacken mit zum Teil schweren Körperverletzungen gegen queere Bürgerinnen und Bürger nennen …» «Hast gehört, der nennt uns Bürgerinnen und Bürger», ich deutete Natascha mit einer Handbewegung an, bitte still zu bleiben, ich wollte keines seiner Worte verpassen, «… und die Attacke gegen einen Versammlungsraum unserer jüdischen Gemeinde. Zeugenaussagen nach handelt es sich bei beiden Vorfällen um Täterinnen und Täter aus Nieder-Bergen. Aufgrund unserer Ermittlungen haben wir in Absprache mit der Nationalen Polizei und den Behörden aus Nieder-Bergen am gestrigen Sonntag verschiedene Hausdurchsuchungen durchgeführt. Dabei sind vierzig Personen aus dem Umfeld der `Nationalen Aktion` vorläufig festgenommen und dem Haftrichter zugeführt worden. Dieser hält die vorgelegten Beweise für ausreichend stichhaltig, um die Festgenommenen weiter in Haft zu lassen.

Ausserdem wurden durch die Nationale Polizei landesweit weitere sechzig Personen vorläufig festgenommen. Hierbei handelt es sich vor allem um Menschen aus dem Bezirk Nieder-Bergen. Fünf von ihnen konnte bereits anhand von DNA-Tests ein direkter Tatzusammenhang mit dem Anschlag gegen den Versammlungsraum der jüdischen Gemeinde hier in Klaie nachgewiesen werden.

Die Klaiener Polizei ist derzeit noch an der Auswertung der beschlagnahmten Unterlagen und elektronischen Speichermedien, eine Sondereinheit bestehend aus hundertdreissig Mitgliedern unseres Polizeikorps sowie des Staatsschutzes wurden hierzu abgestellt und haben bereits weitere Ergebnisse erbracht, die derzeit von der Nationalen Polizei weiter bearbeitet werden.»

Er nahm einen Schluck Wasser und atmete ein paar Mal tief durch. Nun nutzte ich die Pause und sagte zu Natascha: «Wow, da scheint aber einer ganze Arbeit geleistet zu haben», und sie knapp: «Bin gespannt, was noch kommt.»

«Nach unserem Erkenntnisstand waren die Festgenommen auch an mehreren Überfällen auf Tankstellen im ganzen Land beteiligt, bei denen beträchtliche Geldsummen erbeutet wurden. Die sichergestellten Dokumente lassen für uns eindeutig den Schluss zu, dass damit Waffen in grösserem Umfang beschafft werden sollten. Ziel beider Gruppierungen, der `Nationalen Aktion` und der `Bewegung für ein freies Klaie` war es, soweit wir das bislang ermitteln konnten, für ein Klima der Unsicherheit in Klaie zu sorgen und damit Stimmung für ihre Bewegung zu machen.»

Ein grosses Raunen ging durch den Saal und die Pressesprecherin deutete gestisch an, sich wieder zu beruhigen.

«Bevor ich auf den zweiten Ereigniskomplex zu sprechen komme, möchte ich Sie und die Öffentlichkeit darüber informieren, dass wir, auch mit Unterstützung der Nationalen Polizei, für deren Kooperation ich mich hier ausdrücklich bedanken möchte, die Präsenz der Klaiener Polizei im öffentlichen Raum sowohl in Uniform als auch in Zivil massiv ausgeweitet haben und bis zur endgültigen Klärung auch in ebensolchem Umfang aufrecht erhalten werden. Ich danke an dieser Stelle den betroffenen Kolleginnen und Kollegen, die zum Teil auf ihre Urlaubsansprüche verzichtet haben.»

Der Saal applaudierte spontan und Natascha umarmte mich begeistert.

«Das zweite Thema, das bekannterweise die Öffentlichkeit seit gestern bewegt, sind die Ermittlungen gegen Herrn Andreas Hirtner, der bis gestern als Staatsanwalt der Stadt Nieder-Bergen amtierte.» Er musste ein paar Mal Luft holen, mir war klar, warum, Natascha sah hingegen sehr verwundert drein. «Unsere Ermittlungen, auch hier zusammen mit der Nationalen Polizei, lassen für uns den zweifelsfreien Schluss zu, dass dieser Herr Hirtner …», es war erkennbar, dass das Wort `dieser` nicht in seinem Manuskript stand, «… der Auftraggeber eines Bombenanschlages in Nieder-Bergen 1982 war, bei dem ein jüdischer Kindergarten getroffen wurde und ein Knabe lebensgefährlich verletzt wurde. Zudem weisen unsere Ermittlungsergebnisse daraufhin, dass der Tod des mutmasslichen Attentäters von damals in einer Haftanstalt des Bezirks Nieder-Bergen ebenfalls von …», jetzt ging es wieder mit ihm durch, «… diesem Saufascho …». Das Raunen im Saal wurde so gross, dass er den Satz fürs erste nicht weitersprach, der OB legte ihm beruhigend die Hand auf und tätschelte sie. «Ich entschuldige mich an dieser Stelle. Also weiter, dass der Tod des mutmasslichen Attentäters ebenfalls von Herrn Hirtner angeordnet wurde, um damit den vermeintlich letzten Zeugen des Attentats zum Schweigen zu bringen. Die Beweislast schienen den zuständigen Behörden erdrückend genug, so dass Herr Hirtner sofort von seinen Aufgaben freigestellt und in Untersuchungshaft genommen wurde.» Er knöpfte sich sein Uniformhemd um zwei Knöpfe auf, der Schweiss ran ihm deutlich sichtbar vom Kopf. Natascha und ich sahen uns an und brachten kein Wort raus.

«Bevor ich noch einige persönliche Bemerkungen machen möchte, darf ich Sie auch über eine personelle Veränderung im Präsidium informieren.» Erneutes Raunen im Saal, die Pressesprecherin hatte es aber mittlerweile aufgegeben, dazwischen zu gehen. «Mein bisheriger Stellvertreter, Herr Wieland Oberwart, ist mit sofortiger Wirkung von allen Ämtern zurückgetreten, nachdem im Zuge der Ermittlungen festgestellt wurde, dass er sich der Amtspflichtverletzung schuldig gemacht hatte, in dem er regelmässig sicherheitsrelevante Informationen aus dem Departement an Führungskräfte der `Bewegung für ein freies Klaie` weitergegeben hat. Auch wird seitens der Staatsanwaltschaft untersucht, ob Herr Oberwart relevante Informationen im Zusammenhang mit antisemitischen Ausschreitungen in den Jahren 2010-2015 unterdrückt hat. Ich habe mit sofortiger Wirkung Frau Elisabeth Schönfeld als neue Stellvertreterin ernannt.» Erneuter Tumult im Raum, den Natascha nutzte, mich zu fragen: «Ist das unsere Elisabeth, von den queeren Polizistinnen?» «Ich glaub ja, ich mein, sie heisst Schönfeld. Das freut mich aber für sie, hab sie ja am Donnerstag erst gesehen, sie war beim Einsatz bei der Synagoge dabei.» «Wow, Koller macht echt ernst, bisher keine Schwulen, keine Frauen und nun gleich eine lesbische Frau, das ist doch mal ein Fortschritt.» «Ja, er wirkt wie entfesselt, Natascha, aber er scheint noch nicht fertig zu sein.» Ich wies auf den Bildschirm, wo die Pressekonferenz weiter zu gehen schien. Und in der Tat, Koller sprach weiter.

«Es sind verschiedene Spekulationen in den Medien angestellt worden, zu denen ich Ihnen weitere Informationen geben möchte. Es ist zum einen richtig, dass der mutmassliche Attentäter von 1982 ein Herr Dieter Koller war. Es handelt sich dabei um meinen jüngeren Bruder. Seine Tat hat meine Amtsführung jedoch in keiner Weise beeinflusst. Zum anderen ist es richtig, dass Herr Friedrich Gaffer durch seine persönlichen Kontakte geholfen hat, dass der Stadtrat mich seinerzeit in das Amt des Polizeipräsidenten gewählt hat. Es ist in der Folge aber zu keinerlei Vorteilsnahme zwischen Herrn Gaffer, seinen Unternehmungen und mir gekommen. Die `Nationale Aktion` hat versucht, durch Bildaufnahmen, die mich bei der Entgegennahme eines Kuverts von Herrn Gaffer zeigen, in ein solches Bild der Korruption zu setzen. Dies ist so falsch. In dem Kuvert befanden sich vertrauliche Dokumente, die Auskunft über eine akute Bedrohung gegen Herrn Gaffer belegten. Diese Unterlagen habe ich mittlerweile der Staatsanwaltschaft zur Prüfung übergeben. Meine Aussage zu dem Kuvert, wurde mittlerweile auch von Herrn Gaffer so bestätigt.»

Und erneut grosse Unruhe im Saal, nun bat der OB doch Alle um Ruhe, damit Herr Koller seine Ausführungen abschliessen könne. Er hatte dann auch nur noch kurz das Wort.

«Ich habe aufgrund der beiden letztgenannten Umstände dem Herrn Oberbürgermeister und dem Herrn Departementsvorsteher meinen Rücktritt angeboten. Beide haben dies abgelehnt und mir ihr uneingeschränktes Vertrauen ausgesprochen. Auch die Fraktionsvorsitzenden der im Rat vertretenen Parteien haben sich so geäussert. Ich danke den Verantwortlichen für diese Unterstützung meiner Arbeit und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.» Sprachs und verschwand. Und mit ihm stürmten auch die meisten der anwesenden Reporterinnen aus dem Saal, die Nachrichten für heute waren gemacht. Auf dem Stuhl, von dem eben noch der nun verbleibende Polizeipräsident sass, nahm nun die Pressesprecherin Platz und tuschelte mit den zwei Herren. Offenbar wollten sie erst die allgemeine Unruhe etwas abklingen lassen, bevor sie die Fragerunde eröffneten.

Natascha und ich sahen uns an und wussten nicht so recht, was sagen. «Das ist starker Tobak», brachte ich nach einer Weile lediglich raus. Natascha nickte und meinte dann: «Hätte ich dem Koller ehrlich gesagt, nicht zugetraut, dass er da so offen spricht und …», sie machte eine längere Pause, «… endlich mal was tut.» «Ach schau, es geht weiter.» Ich zeigte auf den Bildschirm. Die Kamera schwenkte über den Saal und es waren vielleicht noch zehn, zwölf Leute da, auch mein Thomas. Er war auch der einzige, der eine Frage hatte: «Herr Oberbürgermeister, nach den Ausführungen des Herrn Polizeipräsidenten ist es doch mehr als offensichtlich, dass die `Nationale Aktion` und die `Bewegung für ein freies Klaie` eine Gefahr für die Stadt, wenn nicht für das ganze Land darstellen. Wird die Stadt Klaie nunmehr einem Verbotsantrag zustimmen, wie er bezüglich der `Nationalen Aktion` bereits aus mehreren Städten und Bezirken gefordert wird und wird die Stadt Klaie nunmehr endlich mehr Gelder für Projekte sprechen, die sich mit Faschismus und antidemokratischen Tendenzen in unserer Stadt wirkungsvoll auseinandersetzen? Entsprechende Anträge liegen bekanntermassen derzeit im Rat.» Ich war so stolz auf ihn. «Herr Weissburg, ich danke Ihnen für diese Fragen. Was das Verbotsverfahren angeht, so wissen Sie, dass dies Aufgabe der nationalen Politik ist. Sollte der Rat hier ein symbolisches Zeichen setzen wollen, werde ich das gerne unterstützen. Was die angesprochenen Gelder angeht, so darf ich Sie bitten, den Beratungen des Rates nicht vorzugreifen, ich werde das auch nicht machen, aber sicherlich nach Prüfung der Vorschläge hier mein Wohlwollen zum Ausdruck bringen.» «Was für eine Labertasche», fuhr es aus Natascha raus, «mein Wohlwollen zum Ausdruck bringen», äffte sie ihn nach: «Mir wäre es lieber, er würde sein Lebewohl zum Ausdruck bringen.» «Gemach, gemach, liebe Natascha, wenn der Wahlkampf das Ergebnis bringt, was jetzt die Prognosen sagen, ist dieser Worthülsenfabrikant auch bald Geschichte. Aber Kotzen möchte ich schon!» Wir grinsten uns an. «Na, jetzt sind wir schlauer und meine Anspannung weg. Wollen wir einen Happen essen gehen?» fragte sie mich. «Dass Du schon wieder ans Essen denken kannst – nach der gestrigen Völlerei, aber ja ich bin dabei. Die Salatbar ums Eck hat doch eine gemütliche Terrasse, und immer viel Volk, das vorbeiläuft», schlug ich vor und sie war sofort begeistert und mein Bauchansatz sicher auch.

Wir prüften nochmal den Stream, aber die Pressekonferenz war offenbar nun auch offiziell beendet worden und es wurde bereits wieder Werbung gesendet.

Kurz danach sassen wir also gemütlich in der Sommersonne der Salatbar, die Temperaturen waren angenehm, der Kellner eine Sehenswürdigkeit, für die sich Klaies Tourismusbüro auch einmal interessieren sollte und am Nachbartisch turtelten zwei offenbar frischverliebte Frauen. Nachdem wir noch unsere Eindrücke des gerade Gesehenen verarbeitet hatten, sah mich Natascha auf einmal ernst an: «Ritchie, kann ich mal komplett das Thema wechseln? Mir liegt was auf der Seele.» Diesem Blick hätte ich ohnehin nicht Nein sagen können, aber mir machte eher Sorge, was sie auf dem Herzen haben könnte, bei so einer Einleitung. «Ich mach mir langsam Sorgen um meine berufliche Zukunft», sagte sie zögerlich und offenbar fiel es ihr nicht leicht, das auszusprechen. «Ich werd bald siebenundzwanzig und die Förderung meiner Stelle läuft ja Ende des Jahres aus. Versteh mich nicht falsch, ich arbeite gern für Klaqueur, aber die Aussichten sind da nicht so rosig.» Ich sah sie verständnisvoll an und meinte: «Ist mir klar, Natascha. Ich grübel schon eine Weile darüber nach. Vor drei Wochen hab ich das mal bei der Fraktionschefin der Linken platziert, wir sind am Ende der Förderungszeit, die vier Jahre sind dann um und sie sieht eher keine politischen Mehrheiten, dass wir verlängert bekommen. Ich hab damals gerade bei ihr noch nachgehakt, ob sie was passendes für Dich wüsste. Aber kennst ja die Linken, immer solidarisch, aber wehe, es wird konkret.» «Mist, Ritchie. Ich bin ja schon am Bewerben, ich sag Dir das jetzt ganz offen. Aber bisher ohne Erfolg. Mal zu jung, mal in der falschen Branche tätig, ach Du kennst ja dieses Gefasel.» «Was schwebt Dir eigentlich konkret vor?» «Hmmm, gute Frage, Ritchie, das ist es ja. Mädchen für Alles mit Verantwortung und Führungsaufgaben.» Sie lachte mich schelmisch an. «Das ist doch mal eine konkrete Ansage», gab ich ihr scherzend zurück. «Willst Du denn im politischen Bereich bleiben oder bei einer Non-Profit-Organisation?» «Ehrlich Ritchie? Nein, ich will auch mal ordentlich Geld verdienen. Wirklich, ganz ernsthaft. Ich hab das Ökonomiestudium nicht gemacht, um mich mein Leben lang mit Hungerlöhnen abspeisen zu lassen.» Ich fühlte mich bei ihren Worten an mein eigenes Leben erinnert, schwebte mir doch auch mal was anderes vor, und finanziell war der Präsijob zwar schon okay, aber auch nicht zum Überfliegen. Und nun hatte ich den auch schon über zehn Jahre.

Ich nahm ihre Hand fest in meine und sah sie fest an: «Versprochen Natascha, ich werde in den nächsten Wochen überall anklopfen, wo ich eine Tür finde und für Dich Stimmung machen. Ich werde Dich vermissen, so eine gute Unterstützung hatte ich noch nie und keine, die ich menschlich so mochte wie Dich, aber gerade drum, werde ich alles tun, dass Du gut unterkommst.» `Herrjeh, wer bin ich denn?` schoss es mir durch den Kopf, `welch salbungsvollen Worte Herr Gaffer`. Aber Natascha nickte nur dankbar und sagte: «Danke. Mir wird es auch nicht leichtfallen. Ich arbeite gern mit Dir, aber ich muss auch in die Zukunft blicken.» Und nachdem uns das Wasser beiden in den Augen stand, drehte sie dann doch das Ganze: «Aber noch bin ich da, und da sollen sich die Spiesser und Faschos mal in Acht nehmen.» Wir lachten darauf so laut, dass die Gäste an den anderen Tischen irritiert zu uns blickten.

Als wir einigermassen ausgelacht hatten, meldete sich Ihr Telefon mit einem Pushsignal und sie holte es hervor und begann darauf zu lesen. Kurz danach meldete sie: «Wie passend, in Klaie wird eine Stelle frei», und deutete mir an, mich zu gedulden. Sie las fertig und reichte mir dann ihr Telefon. «Die Baumann tritt zurück.»

«Wie bitte?» entgegnete ich und nahm ihr Gerät. Und dann las ich die dürre Pressemeldung, die offenbar auf verschiedenen Kanälen nun die Runde machte: «Die Departementsvorsteherin Bau und Stadtentwicklung, Frau Doktorin Elisabeth Baumann hat heute ihren sofortigen Rücktritt von allen Ämtern mitgeteilt. Sie möchte sich schon seit längerem beruflich neu orientieren und ihrem Nachfolger Zeit bis zu den Wahlen lassen, sich einzuarbeiten und den Sitz in der Stadtregierung für die Mitte verteidigen zu können. Die Spitzen der Partei der Mitte und die Ratsfraktion der Partei haben sich bereits auf Stefan Hanselmann als Nachfolger geeinigt, der bisher im Rat den Stadtplanungsausschuss leitet. Seine Wahl wird von den anderen Parteien im Rat unterstützt und soll am kommenden Donnerstag erfolgen. Der Oberbürgermeister drückte sein Bedauern aus, zollte aber dem Entscheid Respekt und dankte Frau Doktorin Baumann für die geleistete Arbeit der letzten Jahre.» «Kennst Du den Hanselmann?» fragte ich Natascha, diese verdrehte die Augen und antwortete nur knapp: «Ein Chauvi-Arschloch erster Güte. Für den bräuchten sie in der Gleichstellungskommission eine Drehtür.» «Okay, der ist mir bislang noch nicht gross aufgefallen.» «Du bist ja auch keine Frau, Ritchie.» Sie lächelte müde und begann dann, mir einige Geschichten über den zukünftigen Departementsvorsteher zu erzählen, die sie so von ihren Frauen her kannte und ich musste an Lou denken, das also würde ihr neuer Chef werden, das dürfte ihr nicht gefallen. Als Natascha ihre höchst bedenklichen Erzählungen beendet hatte, meinte ich darauf zu ihr: «Das wird heute Abend sicherlich spannend zu Hause, wenn Lou heimkommt. Ich denke, ich mache dann auch nicht so lange im Büro, um für sie da zu sein.» «Mach das Ritchie, ich möchte jetzt nicht in ihrer Haut stecken.»

Ein Blick auf die Uhr zeigte eins an und es wurde allmählich Zeit, wieder zur Arbeit zurückzukehren. «Hast Du heute noch was bestimmtes zu tun?» fragte ich Natascha. «Ja», antwortete sie, «das Memo über den Leader-Kongress, ich wurde gebeten, das sehr ausführlich zu machen, da einige nutzbare Infos daherkamen, werd ich wohl heute nicht ganz schaffen, aber einen Anfang sollte ich setzen. Was musst Du noch machen?» «Ich werd das Suizid-Konzept anpassen, jetzt, wo es dann wohl etwas Geld hat und jetzt, wo ich weiss, dass wir beim Schulzentrum Im Rain anfangen können.» «Na dann, lass uns zahlen und gehen.» «Ich übernehme das, Natascha.» «Danke Ritchie, so mag ich meinen Chef.» Sie grinste mich frech an, ich zahlte und wir gingen zurück in unser Büro.

Ich hatte gerade das Dokument für das Konzept geöffnet, da meldete sich Thomas telefonisch. «Hallo mein Thomas, schön Dich zu hören.» «Gleichfalls mein lieber Ritchie.» «Heiss sahst Du vorhin in Deinem Anzug aus.» «Hat Dir das Outfit also gefallen? Freut mich. Ist mir nach wie vor fremd, habs lieber legerer.» «Denk ich mir, vor allem mit dem Strick um den Hals.» Er lachte und ich freute mich, ihn in so guter Stimmung zu wissen. «Ich wollte wissen, ob wir uns heute noch sehen können? Ich werde bis vier, halb fünf meine Geschichten fertig geschrieben haben und hätte den Abend frei.» «Ich denke, ich werde nach dem Büro nach Hause gehen, Du hast es ja sicher mitbekommen, dass die Baumann zurückgetreten ist?» «Ja sicher und dass Chauvi-Hanselmann ihr Nachfolger werden wird.» «Ah der ist also nicht nur bei Klaies Frauen als solcher bekannt?» «Hmmm», machte Thomas, «nein, in der Redaktion nennen Sie ihn nur zynisch den `Frauenversteher`, weil er jeder Frau ungefragt seine Lebenstipps mit auf den Weg gibt.» «Ich kenne den bisher nicht wirklich, aber Natascha hat mir vorhin schon Übles erzählt und da möchte ich heute lieber zu Hause sein, und mich um Lou kümmern. Magst Du denn zu uns kommen?» «Wenn ich Euch nicht störe?» «Wie solltest Du denn? Selbst Lou mag Dich doch.» Er atmete hörbar vor Erleichterung auf: «Na dann, ich komm dann so um fünf zu Euch, passt das bei Dir?» «Ja Bestens, wollte heute ohnehin nicht so lange machen, dann mach ich mich rechtzeitig auf den Weg, falls die anderen später kommen. Tom sollte aber heute seinen freien Nachmittag haben und sowieso da sein, falls ich mich doch verspäten sollte.» «Super Ritchie, ich freu mich auf Dich.» «Ich mich auch auf Dich, bleibst Du denn über Nacht?» «Wenn Du mich lässt?» Ich antwortete nicht, sondern gab ihm einen Kuss mit auf dem Weg, er gab einen zurück und verabschiedete sich mit: «Bis später.»

 

 

 

17 Felsenrain

 

«Ihr zwei Turteltauben, das ist ja kaum auszuhalten», grinste mich Natascha an, als ich mit einem grossen Seufzer aufgelegt hatte. «Keinen Neid, ich sag nur Eeeeriiikaaa!» gab ich ihr zurück und sie warf mir einen schmachtenden Blick entgegen. Dann klingelte mein Diensttelefon, Nummer unbekannt. «Hier Gaffer, Präsident Klaqueur, guten Tag», meldete ich mich ganz offiziell. «Ach ich erreiche Sie ja direkt, Herr Gaffer. Guten Tag, hier ist Ruth Rosenzweig-Gaffer», meldete sich eine freundlich wirkende Frauenstimme am anderen Ende und mir fiel fast der Hörer aus der Hand vor Überraschung, was wollte denn Gaffers Frau von mir?

«Guten Tag Frau Rosenzweig-Gaffer, was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes?» fragte ich sehr förmlich und Natascha liess ihre Arbeit ruhen, als sie den Namen hörte und starrte gebannt zu mir.

«Das ist aber nett von Ihnen Herr Gaffer. Ich rufe an, da ich nach den Ereignissen der letzten Tage, in die ja auch meine …» sie machte eine längere Pause, «… angeheiratete Familie beteiligt ist, gerne das eine oder andere mit Ihnen besprechen möchte.» «Ja an was denken Sie da im speziellen?» fragte ich überrascht dazwischen. «Das möchte ich ungern am Telefon besprechen. Wäre es Ihnen möglich, zu uns nach Felsenrain zu kommen?» «Aber sicher Frau Rosenzweig», ich vergass ganz ihren zweiten Nachnamen und wunderte mich selbst über meine Eilfertigkeit: «Wann dachten Sie denn?» «Am besten noch heute, sofort, wenn das bei Ihnen geht. Ich möchte die Sache so schnell wie möglich bereinigen.» Ich erstaunte, was hätte sie denn zu bereinigen? «Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, nach Felsenrain dürfte das etwa eine halbe Stunde dauern, bis ich hier fertig gemacht habe, passt Ihnen Zwei Uhr?» «Ja sehr gut, Herr Gaffer, vielen Dank für Ihre Flexibilität. Ich erwarte Sie dann.» «Bis nachher, Frau Rosenzweig.» Sie legte ohne weiteres auf und ich sah hilfesuchend zu Natascha, diese zuckte auch nur mit den Achseln. «Was will denn die Frau vom alten Gaffer von Dir?» fragte sie dann noch. «Sie hätte etwas zu bereinigen, kannst Du Dir vorstellen, was?» «Ich bin ratlos, Ritchie, aber ich werde das Büro hier schon hüten können, schau, dass Du den Termin nicht verpasst.» «Willst mich loswerden?» scherzte ich noch mit ihr und begann, meinen Arbeitsplatz für heute zu räumen, da ich nicht mehr vor hatte, vor morgen noch einmal zurückzukehren und so verabschiedete ich mich auch bei Natascha auf morgen. Sie drückte mir noch die Daumen und dann schwang ich mich aufs Fahrrad. Die Strecke nach Felsenrain war eine schöne Tour, komplett entlang der Weesel und obwohl es dorthin flussaufwärts ging ohne grosse Steigung und so erreichte ich das Anwesen der Felsenrain-Gaffers auch pünktlich und ohne grosses Schwitzen.

Der Wohnsitz der Felsenrain-Gaffers war wie immer ein beeindruckender Anblick. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, als ich es das erste Mal sah. Ein romantischer grosser Kasten aus dem 19. Jahrhundert, mit vier Geschossen und einer Fläche, wie ein kleines Schloss, überall Erker und verspielte Ornamente. Die Lage traumhaft, vor einem sanften kleinen Hügel und dahinter war das Kloster Felsenrain gut zu erkennen. Damals als Kind ärgerte ich mich tatsächlich, dass wir nicht mit ihnen verwandt waren, heute war eher das Gegenteil der Fall, aber der Kasten war immer noch eine Wucht, auf die ich ein wenig neidisch war.

Ich klingelte und spürte meine Nervosität, was sie um alles in der Welt wohl von mir wollte? Es dauerte eine gute Weile, bis sich die Tür öffnete und da stand sie die Frau Rosenzweig-Gaffer, ganz Business-Frau, mit weisser Bluse, einem engen Rock bis zu den Knien, um den Hals eine schwere, aber äusserst geschmackvolle Goldkette, dazu passende Ohrringe, bestens gestylt und mit einem frischen, wachen Gesicht. Dass sie knapp älter war als ich, sah ich ihr keinesfalls an. Mit meiner weissen Leinenhose und dem verwaschenen grünen T-Shirt kam ich mir aber bei ihrer Aufmachung richtig billig vor.

«Hallo Herr Gaffer, wie schön, dass es so rasch geklappt hat, kommen Sie doch rein.» Guten Tag Frau Rosenzweig-Gaffer.» Ich reichte Ihr die Hand, die sie kräftig entgegennahm und noch während des Schüttelns meinte sie gleich mit einem freundlichen Augenzwinkern: «Ach sagen Sie doch Ruth zu mir. Sonst wird das ein Gaffer-hin-und-her-Gespräch.» «Vielen Dank, ich bin Richard, oder Ritchie, wie mich die meisten nennen.» Gut Ritchie, dann komm doch rein und folge mir.» Sie schloss die Tür und führte mich durch das grosse Vorzimmer mitten in den Salon. Ich war beeindruckt von der Grösse des Raumes und der hohen Decke. Es sah mit seinen wertvollen Möbeln, den Gemälden an der Wand und dem vielen Stuck an Decke und Wänden wahrlich wie in einem Schloss aus. In der einen Ecke sass in einem edel wirkenden Lederstuhl der alte Gaffer, er sah nur noch aus wie ein Schatten seiner selbst, fahl, unausgeschlafen und sein Hemd zerknittert. Statt aufzustehen winkte er nur mit der Hand zum Gruss. Ich winkte zurück, da ich keine Lust hatte, ihm näher zu kommen.

Sie führte mich zu einem bequem aussehenden Sofa in einem schrecklichen rosa Pastellton und bat mich Platz zu nehmen. Es war tatsächlich bequem, sie nahm mir gegenüber auf einem dazugehörigen Sessel Platz. «Ja, Ritchie, wie ich am Telefon bereits angedeutet habe, sind die Ereignisse der letzten Tage für meine Familie nicht gerade angenehm gewesen. Und da Sie in diesem Verwirrspiel offenbar Opfer waren, möchte ich gerne das eine oder andere bereinigen und eventuell Ihnen bei Ihrer Arbeit Unterstützung anbieten.» «Schmeiss doch dein Geld gleich aus dem Fenster», knurrte der alte Gaffer von hinten, doch seine Frau ignorierte ihn. Ich war vor allem von ihren Worten irritiert, darum fragte ich nach: «Frau Rosen… äh Ruth, ich verstehe noch nicht ganz. Was möchten Sie denn, Entschuldigung, was möchtest Du denn gerne bereinigen?» «Nun, ich sollte Dich vielleicht kurz etwas ins Bild setzen», begann sie, etwas Licht in meine Dunkelheit zu bringen: «Herr Polizeipräsident Koller hat uns am Wochenende verschiedene Informationen geliefert, zudem hat mich ein gewisser Thomas Weissburg, freier Journalist hier in Klaie, - ich glaube Du kennst Ihn? - noch über bestimmte Handlungen ins Bild gesetzt, die durch meine Familie ausgeführt wurden.» `Was schwurbelte sie da?`, schoss es mir durch den Kopf. Der Alte liess sich erneut vernehmen: «Schön ausgedrückt, Lügen werden verbreitet.» Auch dies ignorierte seine Frau.

«Ich sehe, Du verstehst mich noch nicht ganz. Also Ritchie, wir wissen, dass unser Sohn Herwig…» «Mein Sohn», rief der Alte erbost. «Gut, sein Sohn Herwig Dich benutzt hat, um an bestimmte Informationen zu gelangen. Ich weiss durch Herrn Koller, dass … nun, lass es mich so ausdrücken - die Familie Gaffer sich in den letzten Jahren nicht immer vorbildlich verhalten hat.» «Du bist nur sauer, dass ich die Baumann gevögelt habe. Das habe ich für die Firma getan, das war kein Vergnügen», liess sich Friedrich Gaffer wieder vernehmen. «Meine Firma», korrigierte sie, schien aber sonst nicht weiter im Mindesten an seinen Worten Interesse zu haben.

«Es ist nicht leicht, all das wieder ins Lot zu bringen. Aber mein Mann und ich haben beschlossen …» «Du hast entschieden, versteck Dich nicht hinter mir.» Friedrich Gaffer war wahrlich nicht bester Laune. «Ach Friedel, nun lass mich doch mit dem Herrn Gaffer mal in Ruhe reden.» Ich hatte arg zu kämpfen, nicht laus los zu prusten, als ich hörte, wie sie ihren Mann nannte. «Wo war ich? Ach ja, wir», sie sprach das Wort sehr langsam und nachdrücklich aus, «haben entschieden, dass die Gaffer-Group sich aus politischen Vorgängen in Klaie zukünftig heraushalten wird. Dazu hat mein Mann sich bereit erklärt …», «Du hast mich bereit erklärt.» Erneut stand ich kurz vor dem Losprusten, nun ging neben seiner Haltung auch noch seine Grammatik verloren. «Friedel, bitte, Du darfst gerne nachher noch Deine Meinung äussern», ermahnte sie erneut ihren Gatten. «Also, er hat sich bereit erklärt, sich von der Leitung der Bauabteilung der Gaffer-Group zurückzuziehen und sich dem wohlverdienten Ruhestand zu widmen.» Ein gellender Pfiff kam aus der Ecke, wo Friedrich `Friedel` Gaffer sass. «Ich habe zudem veranlasst, dass sofort die Planungen für das Projekt Südstadt gestoppt werden, bis geklärt ist, ob die Gaffer-Group sich hier an geltende Gesetze gehalten hat.» Ich sah sie verwundert an und fragte danach: «Das ist sehr freundlich, dass Sie … äh Du mir das erzählst, aber ich verstehe noch immer nicht ganz, was das mit mir zu tun hat?» «Geduld Ritchie, ich erzähle Dir das, damit Du das ganze Bild unserer Entscheidungen hast. Mir ist bekannt, mit wem Du so verkehrst und welche Personen in Deiner WG wohnen. Ich möchte, dass Ihr aus erster Hand wisst, was vom Felsenrain zu erwarten ist.» «Ah Danke. Aber darf ich fragen, woher Ihr das wisst?» «Ach Ritchie, bitte mach nicht auf naiv, wir haben da natürlich unsere Drähte. Und wie erwähnt, Polizeipräsident Koller war da.» «Ah ja natürlich, der Herr Koller», rutschte mir raus und er sank wieder in meiner Achtung, die er sich heute Morgen mit seiner Pressekonferenz so mühsam erworben hatte.

«Aber um auf den Punkt zu kommen: Herwig hat heute das Land verlassen, er wird zukünftig nur noch seine unternehmerischen Aktivitäten im Ausland betreuen. Herr Koller hat angedeutet, dass es vermutlich zu weiteren Untersuchungen kommen wird, bei denen Herwig eventuell auch bestimmter Straftaten beschuldigt werden wird. Du wirst verstehen, dass ich und mein Mann die Familie schützen müssen.» «Wir hätten Koller auf den Mond schiessen sollen, das wäre der beste Schutz für Herwig gewesen. Du verstehst diese Stadt echt nicht, meine liebe Ruth.» Jetzt ging sie doch mal auf den Einwurf ihres Mannes ein: «Friedel, ich bitte Dich. Das pfeifen doch bereits die Spatzen von den Dächern, dass Du Deine Finger nicht immer nur zum Allgemeinwohl in den Honigtopf der Stadt gesteckt hast, also hör bitte auf, verlorene Schlachten noch gewinnen zu wollen. Geh Golf spielen und Deine Freunde besuchen und von mir aus, vögel wer immer Dich noch haben will, aber schliesse das Kapitel Du und Deine Firma endlich ab.» Da war ich ja gerade in den schönsten Ehekrieg hineingeraten, aber mir gefiel Ruth mit ihrer energischen Art, die hatte ihren Mann mal im Griff, musste ich amüsiert feststellen.

«Also, und halt Dich mal zurück, Friedel, ich werde die Gaffer-Group versuchen in sauberes Fahrwasser zu bringen und wo nötig, Entschädigung leisten. Zukünftig möchte ich nicht, dass wir mit Korruption oder noch schlimmer mit rechtsextremen oder antisemitischen Handlungen in Verbindung gebracht werden können.» Ich war kurz davor, Applaus zu spenden. Doch sie war voll in Fahrt und ich wollte sie nicht unterbrechen: «Und da ich von Dir Ritchie diesen Brief zu einem Suizidprojekt erhalten habe, dachte ich mir, dass es vielleicht ein erstes Zeichen meines guten Willens ist, wenn ich dieses Projekt mit 25.000 unterstützen werde.» «Echt Ruth, 25.000? Jetzt sei mal nicht geizig, wenn Du hier guten Willen zeigen willst.» Friedel war nicht still zu halten. «Du hörst meinen Mann, er möchte also den gleichen Betrag auch dazu geben, natürlich aus seiner Privatschatulle, danke Friedel.» Mir blieb der Mund offen, wie schnell hier das Geld ausgegeben wurde, aber sie hatten ja offenbar genug davon. «Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll, ausser vielen herzlichen Dank, das ist natürlich grossartig für unser Projekt.» «Das will ich hoffen Ritchie. Ich werde auch über unsere Medienabteilung versuchen, positive Stimmung für dieses Anliegen zu organisieren.» «Nochmals vielen Dank. Ich bin sehr erstaunt über Deine Grosszügigkeit, und werde natürlich Deinen Namen gerne bei unseren Aktionen nennen.» «Das ist nett Ritchie, das freut mich natürlich, wenn wir Gaffers demnächst wieder mit anderen Themen in Verbindung gebracht werden.» «Aber nennen Sie es Unterstützung durch Rosenzweig, ich mag den guten Namen Gaffer da nicht dabei haben», plärrte der Alte. Das war nun ein Angriff auch auf mich. «Herr Gaffer, es wird schwierig werden, den Namen Gaffer da ganz rauszuhalten, schliesslich bin ich auch ein Gaffer.» Ruth lachte laut auf: «Dein Humor gefällt mir Ritchie. So, das war es, was ich Dir mitteilen wollte. Ich hoffe, Du kannst damit die Vorkommnisse etwas besser verarbeiten und Dich Deinen zukünftigen Aufgaben widmen?» «Ja vielen Dank Ruth, ich bin ehrlich gesagt, gerade etwas sprachlos, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet, dass der Tag so eine Wendung nimmt. Vielen herzlichen Dank.» «Das freut mich Ritchie, darf ich Dich noch zur Tür bringen?» «Ja gerne.» Ich winkte meinem Namensvetter noch zu, doch dieser war in Selbstgesprächen vertieft und blickte erst gar nicht zu mir. Auf dem Weg zur Tür fiel mir aber dann doch noch etwas ein: «Liebe Ruth, ich hätte da doch noch ein Anliegen.» «Nur zu Ritchie, um was geht es?» «Meine Mitarbeiterin, Frau Natascha Kaminskaja, ihre Stelle wird vermutlich Ende des Jahres auslaufen und sie möchte gerne in der Wirtschaft arbeiten. Sie ist ausgebildete Ökonomin, ein Ass in der Administration und beim Organisieren, spricht vier Sprachen und ist auch menschlich sehr angenehm. Darf sie eventuell eine Bewerbung an Dich direkt schicken?» «Ah das klingt spannend Ritchie, ja gerne. Ich bin immer an guten und motivierten Mitarbeitern interessiert, insbesondere an guten Frauen.» Sie ging zu einem kleinen Holzmöbel mit wertvollen Intarsien und zog aus einer Schublade eine Visitenkarte hervor: «Sie soll das doch bitte an diese Adresse schicken, dann geht es direkt zu mir.» Ich bedankte mich noch einmal, bevor ich mich endgültig verabschiedete und mir war irgendwie ein wenig schwummerig von dem eben Erlebten. Ich beschloss, erst mal mein Fahrrad zu schieben, da ich mir selbst nicht traute, das jetzt sicher steuern zu können. So nutzte ich die Gelegenheit, Natascha anzurufen und ihr die guten Neuigkeiten zu erzählen. Sie war völlig baff, erst recht als sie die Summe von 50.000 hörte. «Und Du sollst Ruth, also Frau Rosenzweig, Deine Unterlagen schicken, sie sei immer an motivierten Frauen interessiert.» Dann gab ich ihr die E-Mail-Adresse von Ruth Rosenzweig und sie war nun auch im Dankesagmodus. Danach setzte ich mich doch auf mein Rad und fuhr gemütlich flussabwärts zurück zur Stadt und dann Richtung Ostmarkt. Kurz vor unserer Wohnung traf ich Thomas, der zu Fuss von der Redaktion zu mir unterwegs war. Immer noch in seinem scharfen Anzug, lediglich die Krawatte trug er nicht mehr. Wir begrüssten uns stürmisch, so dass sich einige Passanten erstaunt, andere sehr amüsiert nach uns umdrehten. Ich brachte auch ihn auf den aktuellen Stand und liess nicht unerwähnt, dass Frau Rosenzweig ihre Entscheidungen auch auf seinen Informationen stützte. Die Freude darüber war ihm deutlich anzusehen. So gingen wir, nachdem ich mein Rad versorgt hatte, voll guter Laune zur Wohnung meiner WG.

Dort sassen meine Mitbewohnerin und Mitbewohner bereits um den grossen Küchentisch versammelt, Lou hatte ihre Ginflasche und ein Glas vor sich und ihre Stimmung sah nicht nach Party aus, die besorgten Gesichter von Tom und Stefan taten ein Übriges. Wir setzten uns rasch dazu und da schoss es aus Lou heraus: «Stefan Hanselmann. Von allen Arschlöchern dieser Welt, muss es ausgerechnet Stefan Hanselmann sein.» Ich blickte etwas ratlos die anderen an und Tom erklärte mir: «Lou ist ziemlich durch den Wind wegen der Nachfolge von der Baumann. Sie hat wohl einige Konflikte mit dem Herrn hinter sich?» «Konflikte?» Lou war kurz vorm Kreischen: «Konflikte nennst Du das Tom? Soll ich Dir erzählen, was ich mit dem hab? Krieg!» Wir sahen uns nun alle ratlos an. «Der macht mir seit Jahren das Leben zur Qual. Intrigen, blöde Sprüche, unsinnige Anträge und stets etwas Frauenverachtendes auf den Lippen. Soll ich Euch mal eine Geschichte von dem erzählen?» Ihre Frage war eindeutig rhetorisch und wir nickten lediglich, während sie zunächst mal wieder ihr Glas füllte. «Dieser Vollpfosten hat schon immer hinter meinem Rücken getuschelt, dass `Frauen wie ich` nur mal richtig durchgefickt gehören. Weil `so etwas` doch nicht normal sei. Einmal – und jetzt passt auf Jungs», sie hob ihren Zeigefinger drohend in die Luft und der Alkohol war deutlich spür- und hörbar, «einmal, da kam ich etwas zu spät in eine Sitzung, er schon mit seinen Jungs eifrig am Diskutieren und hat nicht gehört, dass ich in den Raum gekommen bin. Da kam er wieder mit dem Spruch. `Diese Hager müsste mal ein echter Kerl flachlegen und es ihr ordentlich besorgen`», sie suchte offenbar nach den Worten oder generell nach dem Faden, den sie gerade spann: «Da hab ich nur zu ihm gesagt: Das könnte Ihnen sicher auch gut tun, Herr Hanselmann.» Sie lachte laut auf, ob dieser Erinnerung: «Aber ich glaube, Schwule haben Geschmack, da müssen sie sich wohl von einem Besenstil ficken lassen.» Und erneutes Gelächter, in das wir aber nun auch einstimmen mussten, so kannten wir unsere Lou, im passenden Moment die richtigen Worte. «Und seither Krieg, aber so richtig», ihre Stimme schwankte zwischen Frust und Nebel und sie goss sich noch ein Glas ein. «Und der wird nun mein Chef, Jungs, dieses Arschloch wird mein Chef!» Jetzt mischten sich auch noch Wut und Zorn in ihre Stimme.

«Tja liebe Lou», versuchte ich mehr scherzhaft auf diese Situation zu reagieren. «Dann musst Du halt ins Rennen um dieses Amt, frag doch mal bei den Linken, ob sie Dich nicht nach den nächsten Wahlen zur Departementsvorsteherin machen wollen?» Die anderen sahen mich zuerst erstaunt an, nickten dann aber zustimmend. «Schu schpät, Rischie. - Die Linken haben schon angeklopft, und wollen mit mir Wahlkampf ma, ma, maschen.» «Und hast Du zugesagt, Lou?» wollte Tom wissen. «Nog nischt, Tom, nog nischt, isch hab mir Bedenkscheit bis morgen ausch, ausch, na isch will misch bisch morgen entscheiden.» «Na was gibts da zu übörlögön Lou? Sichör machst Du das, keinö könnt das Amt so gut wie Du», versuchte Stefan sie zu überzeugen und Tom ergänzte: «Stefan hat Recht, die paar Monate stehst Du auch den Hanselmann durch, machst halt Dienst nach Vorschrift, und im Wahlkampf kannst Du sicher auf uns alle zählen, Ehrenwort, Du bekommst jede Unterstützung, die Du brauchst.» Wir nickten eifrig, Thomas ergänzte noch: «Und einen Pressesprecher hast Du auch schon, wenn Du magst?» Sie sah uns aus ihren Augen an, oder sie versuchte zumindest, uns anzusehen: «Isch scholl das wirklisch maschen?» «Ja sicher, unbedingt, Lou», sagte ich ihr und rief in die Runde: «Auf in den Wahlkampf!» Es dauerte einen Moment, dann liess sich Lou noch einmal vernehmen: «Das Rischie, wirscht Du nog bereun, Ihr Alle werdet dasch nog bereun.» Sie versuchte sich nochmal zu erheben, es gelang ihr aber nicht mehr, sie zeigte aber drohend mit ihrem Zeigefinger auf mich: «Vor allem aber Schie, Herr Gaffer, Rischard Gaffer.»

 

 

 

 

 

 

Zusammenfassung/Klappentext

 

Ein Eierwurf von Gorillas schmeisst die Wohngemeinschaft von Richard Gaffer mitten rein in die politischen Auseinandersetzungen ihrer Heimatstadt Klaie. Dabei kämpfen nicht nur Linke mit Rechten, Faschos gegen Juden, sondern auch ein Industrieller ums wirtschaftliche Überleben, die Stadt gegen Korruption und ein Polizeipräsident um sein Amt. Gewissheiten verlieren im Verlauf ihre Gültigkeit, ein Verbrechen aus dem Jahr 1982 wird aufgeklärt und Geschlechtsverkehr erweist sich nicht immer nur als Vergnügen, sondern auch als Mittel eigene Ziele zu erreichen. Richard `Ritchie` Gaffer findet aber in all dem Gewirr noch die grosse Liebe, muss einen Anschlag überleben und trotz allem seiner Arbeit als Präsident der queeren Menschen in seinem Geburtsort nachgehen. Welch Glück, dass er mit seinen Freundinnen und Freunden auch viel Lachen, Feiern und das Leben geniessen kann. Doch das Happy-End behält einen bitteren Nachgeschmack.